Wer die Nachtigall stört [1962]

Wertung: 6 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 5. Mai 2024
Genre: Drama

Originaltitel: To Kill a Mockingbird
Laufzeit: 129 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 1962
FSK-Freigabe: ab 6 Jahren

Regie: Robert Mulligan
Musik: Elmer Bernstein
Besetzung: Gregory Peck, Mary Badham, Phillip Alford, John Megna, Frank Overton, Estelle Evans, Brock Peters, Rosemary Murphy, Ruth White, Paul Fix, Collin Wilcox, James Anderson, Alice Ghostley, Robert Duvall, William Windom, Crahan Denton, Richard Hale


Kurzinhalt:

Es ist das Jahr 1932 und der letzte Sommer, bevor die sechsjährige Scout (Mary Badham) in die Schule kommt. Sie verbringt die Tage, an denen ihr Vater Atticus Finch (Gregory Peck) bei der Arbeit ist, mit ihrem Bruder Jem (Phillip Alford) und dem Nachbarsjungen Dill (John Megna) beim Spielen in der Nachbarschaft. Immer wieder kommen sie dabei am Haus von Arthur „Boo“ Radley (Robert Duvall) vorbei, den sie noch nie gesehen haben. Aber Scout und Jem haben Geschichten über Boo gehört und was er alles Schlimmes getan haben muss. Die grundlegende Unschuld von Scout, die im Gegensatz zu Jem ihre Mutter nicht gekannt hat, bevor sie starb, findet ein Ende, als Atticus gebeten wird, die Verteidigung von Tom Robinson (Brock Peters) zu übernehmen. Robinson, ein Farbiger, soll Mayella (Collin Wilcox), die weiße Tochter von Bob Ewell (James Anderson) angegriffen und vergewaltigt haben. Dafür, dass er überhaupt die Verteidigung übernimmt, wird der ansonsten angesehene Anwalt und Abgeordnete Atticus von den Menschen der Kleinstadt angefeindet. Auch Scout bekommt diese Angriffe zu spüren …


Kritik:
Wie die im Jahr 1961 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete, gleichnamige Romanvorlage von Autorin Harper Lee, erzählt das preisgekrönte Drama Wer die Nachtigall stört nicht nur vom die Gesellschaft durchdringenden Rassismus der frühen 1930er-Jahre in einem südlichen Bundesstaat der USA. Vielmehr erzeugt Regisseur Robert Mulligan ein umfassendes Bild der Gemeinschaft jener Zeit inmitten der Großen Depression, einer schweren Wirtschaftskrise. Dies durch die Augen eines Kindes mitzuerleben, macht das Gezeigte nur eindringlicher.

Inspiriert von ihren eigenen Erfahrungen, schildert Lee das Geschehen aus Sicht der sechsjährigen Scout, die zusammen mit ihrem 10 Jahre alten Bruder Jem bei ihrem alleinerziehenden Vater Atticus Finch aufwächst. Der ist als Anwalt und Abgeordneter in der (fiktiven) Kleinstadt Maycomb allseits bekannt und auch geschätzt. Da die Mutter der Kinder vor einigen Jahren verstorben ist, kümmert sich die afroamerikanische Calpurnia um den Haushalt – und teilweise um die Erziehung. Im Sommer des Jahres 1932, dem letzten, bevor Scout in die Schule kommt, ist der junge Dill bei der Nachbarin zu Besuch. Zusammen mit ihm erkunden Jem und Scout die Nachbarschaft, wo auch das Haus der Radleys steht, dem man sich nicht nähern sollte, da der zurückgezogen lebende „Boo“ gefährlich sein soll. Die Kinder haben ihn zwar noch nie gesehen, aber bei den Geschichten, die sie gehört haben, stellen sich ihnen die Nackenhaare auf. Eines abends tritt Richter Taylor an Atticus heran und bittet ihn, den angeklagten Tom Robinson zu vertreten. Der Farbige soll die Tochter von Bob Ewell, Mayella, angegriffen und vergewaltigt haben. Atticus übernimmt den Fall, wohl wissend, dass er dafür angefeindet werden wird. Wieso sollte ein Farbiger, von dessen Schuld alle Weißen in Maycomb überzeugt sind, überhaupt einen Prozess erhalten?

Es sind vermutlich die ersten Berührungspunkte mit Rassismus, die Scout überhaupt bewusst in ihrem Leben erfährt, als sie in der Schule von anderen Kindern angefeindet wird. Je dichter der Prozess rückt, umso beklemmender wird für Atticus die gesamte Situation, bis hin zu einem Abend, an dem er allein vor einem Lynchmob steht, der verlangt, zu Robinson durchgelassen zu werden. Scout, Jem und Dill beobachten die Situation und man kann nur mutmaßen, ob sie die Tragweite der Bedrohung in diesem Moment erkennen. Wer die Nachtigall stört schildert diese aufgeheizte Situation mit einer Intensität, die sich gleichermaßen nicht in der handwerklichen Umsetzung widerspiegelt. Ganz so, als wollte Filmemacher Robert Mulligan nicht, dass die abstoßende Menschenfeindlichkeit des Rassismus das Narrativ definiert, sondern Atticus’ besonnener Umgang damit. Er ist, insbesondere für seine Kinder, aber auch für die übrigen Menschen in der Kleinstadt, ein Vertrauter. Er besitzt eine Autorität, die durch seine Integrität und seinen Anstand definiert wird. Sein Mut drückt sich dadurch aus, dass er sich verpflichtet sieht, das Richtige zu tun, selbst wenn keine Chance auf Erfolg besteht. Das führt zum bewegendsten Moment des Films, nach Verkündung des Urteils des Prozesses, wenn Atticus schweigend den Gerichtssaal verlässt und die farbigen Zuseherinnen und Zuseher auf dem oberen Balkon geschlossen aufstehen, als Zeichen des Respekts vor diesem Mann und wofür er steht.

Dabei nimmt der Prozess selbst nur eine untergeordnete Rolle der Erzählung ein. Wer die Nachtigall stört ist kein Krimi im eigentlichen Sinn. Es ist eine Schilderung des Heranwachsens in einer Zeit, die von großen Entbehrungen geprägt war. Mit der Zeit, die Scout und Jem mit ihrem Vater verbringen, da es ihnen selbst an nichts mangelt und ihre Familie angesehen ist, beschreibt die Geschichte gleichzeitig ein Kindheitsidyll, dem sich der große Kontext des menschlichen Zusammenlebens erst nach und nach erschließt. Spätestens dann, wenn Scout auf dem Schulhof eine nie gekannte Ablehnung entgegenschlägt in Anbetracht dessen, wofür sich ihr Vater einsetzt, selbst wenn es bedeutet, dass er dafür bei seinen Mitmenschen in Ungnade fällt. Durch den Blickwinkel der Kinder behält sich die Geschichte nicht nur eine gewisse Unschuld, sondern auch eine Neugier, wenn es um die Eigenheiten der Nachbarinnen und Nachbarn geht. Im Fall von Boo Radley, dessen Figur lange vorbereitet, am Ende wichtig wird, führt dies dazu, dass die Kinder ihre Vorurteile hinterfragen und Erzählungen von anderen nicht als unumstößliche Wahrheiten einzuordnen lernen. In dem langen Nachhall nach Ende des Prozesses, kommen die Themen der Geschichte um Vorurteile und Verbrechen auf eine Art und Weise zusammen, welche die Kinder gewissermaßen ihrer Unschuld beraubt.

All das sind Lektionen, die das Leben lehrt, und die hier nicht nur mit einer Ruhe und einem Einfühlungsvermögen präsentiert werden, die mit Händen zu greifen sind, sondern von einer Besetzung verkörpert werden, deren Aufrichtigkeit von den Bildern förmlich überspringt. In den Rollen von Scout und Jem zeigen Mary Badham und Phillip Alford eine Natürlichkeit, die es beinahe unmöglich macht, nicht mit ihnen mitzufiebern. In seinen wenigen Szenen prägt Brock Peters die Rolle des Tom Robinson auf ergreifende Weise. Doch es ist die Darbietung von Gregory Peck, die über allem steht. Seine Verkörperung des Atticus Finch ist der Inbegriff der Anständigkeit und Ehrlichkeit. Atticus’ Zögern, wenn er nicht weiß, wie er seinen Kindern auf ihre Fragen antworten soll, ohne ihnen die Unschuld ihres Nichtwissens zu nehmen, ist so einnehmend wie sein Charisma, wenn er gedankenversunken weiß, was zu tun ist, aber insgeheim zweifelt, ob er die Kraft besitzt, seinen eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. All dies, zusammen mit den Werten, die hier vermittelt werden, macht Wer die Nachtigall stört heute so sehenswert wie damals. Vorausgesetzt, das Publikum ist bereit, sich auf eine solch ruhige Erzählung einzulassen.


Fazit:
Als wie gut und ehrenwert eine Gemeinschaft empfunden wird, liegt an den Menschen, aus denen sie besteht. Atticus Finch ist ein Mann von Überzeugungen, die er selbst dann aufrechterhält, wenn er sich damit gegen einen Großteil dieser Gemeinschaft stellt. Einst angesehen und respektiert, wird er daraufhin von Einzelnen sogar bespuckt. Doch eben weil er das Richtige aus seiner Überzeugung heraus tut, repräsentiert er die beste Version dieser Gemeinschaft. Preisgekrönt, füllt Gregory Peck diese Rolle auf eine so greifbare wie geradezu unerreichbar nobel erscheinende Art und Weise aus, dass er in jenem Gerichtssaal, in dem das Urteil bereits gesprochen scheint, noch ehe der Prozess begonnen hat, wie ein Leuchtturm der Anständigkeit alles überstrahlt. Sein Plädoyer ist ebenso ein Highlight, wie die authentische Stimmung des Dramas, das sich dank des Blickwinkels eine Leichtigkeit bewahrt, die man kaum erwarten würde. Wer die Nachtigall stört erzählt mit einer narrativen Reife eine wichtige und hörenswerte Geschichte, die auch heute nichts von ihrer Bedeutung verloren hat. Zurückgenommen und ruhig, aber in seiner Aussage weiterhin bewegend, inspirierend und bedeutsam.