Facing War [2025]

Wertung: 5.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 23. April 2025
Genre: Dokumentation

Originaltitel: Facing War
Laufzeit: 105 min.
Produktionsland: Norwegen / Island / Dänemark / Finnland / Schweden / Belgien
Produktionsjahr: 2025
FSK-Freigabe: noch nicht bekannt

Regie: Tommy Gulliksen
Musik: Svein Berge, Torbjörn Brundtland
Personen: Jens Stoltenberg, Allison Hart, Stian Jenssen, Lorenz Meyer-Minnemann, Benjamin Norman, Dylan White


Hintergrund:

Als der russische Präsident Vladimir Putin am 24. Februar 2022 den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf die Ukraine beginnt, sieht der Generalsekretär des 30 Mitgliedstaaten umfassenden Verteidigungsbündnisses NATO (kurz für „North Atlantic Treaty Organization“ oder „Organisation des Nordatlantikvertrags“), Jens Stoltenberg, dem letzten Jahr seiner bereits mehrfach verlängerten Amtszeit entgegen. Er gibt zu Beginn des Krieges dem ukrainischen Volk ein Versprechen, dass die NATO an seiner Seite stehe und die Menschen in der Ukraine unterstützen werde, so lange es dauert. Doch in dem auf Einstimmigkeit angewiesenen Bündnis gestaltet sich dies herausfordernder, als vermutet, und je länger der Krieg dauert und sich die Verhandlungen unter den Mitgliedstaaten der NATO hinziehen, um so mehr scheint es, als könnte der Generalsekretär sein Versprechen nicht halten. Filmemacher Tommy Gulliksen begleitet ihn in dieser Zeit und gibt Einblicke hinter die Kulissen und in die Entscheidungsprozesse.


Kritik:
Für Außenstehende destillieren Nachrichtenformate Beschlüsse und Entscheidungen von politischen Organisationen auf die darin enthaltenen Kernaussagen. Die Prozesse, die zu diesen Ergebnissen führen, kann man allenfalls dann erahnen, wenn man die Nachrichten über einen längeren Zeitraum intensiv verfolgt. Regisseur Tommy Gulliksen begleitet in Facing War NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg während der letzten Etappe seiner bereits dreimal verlängerten Amtszeit nach Beginn des Ukrainekrieges. Dabei gibt er Einblicke, die so faszinierend sind, dass sie das persönliche Verständnis auf ein ganz anderes Niveau heben.

Das Verteidigungsbündnis der NATO fußt auf einem einfachen Prinzip: einer für alle, alle für einen. Wird ein Mitglied angegriffen, wird dies als Angriff auf alle Mitgliedstaaten des Bündnisses aufgefasst, die einander daraufhin bei der Verteidigung unterstützen. Die Einheit zu wahren und unterschiedliche Interessen der 30 Mitgliedsstaaten auszutarieren, fällt der Generalsekretärin bzw. dem Generalsekretär zu. Im Jahr 2022 ist dies der Norweger Jens Stoltenberg, der nach der Verlängerung seiner Amtszeit verständlicherweise wiederholt gefragt wird, ob er denn beabsichtigt, den Posten ein weiteres Mal zu übernehmen. Doch Stoltenberg lehnt ab. Nach neun Jahren sei es für ihn an der Zeit, zurückzutreten und das Versprechen an seine Frau einzulösen, nach Hause zu kommen. Doch der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, die Präsident Wolodymyr Selenskyj so bald als möglich in die NATO aufgenommen sehen will, ändert alles und auf Bitten des amerikanischen Präsidenten Joe Biden stimmt Stoltenberg einer letztmaligen Verlängerung der Amtszeit zu, um die Allianz zusammen zu halten.

Es wird eine Herkulesaufgabe, denn nicht nur, dass Stoltenberg der Ukraine Unterstützung durch die Mitgliedsstaaten zugesagt hat, die sich viel schleppender gestaltet, als erhofft, mit Schweden und Finnland wollen in Anbetracht des Angriffskrieges zwei Länder der NATO beitreten, die dies lange Zeit ablehnten. So begrüßenswert dies aus Sicht des Bündnisses sein mag, damit verdoppeln sich die Grenzkilometer mit Russland und es braucht die Zustimmung sämtlicher Mitgliedsstaaten – die jedoch nicht gegeben ist. Ein interessiertes Publikum, das die Nachrichtenlage in den vergangenen Jahren aufmerksam verfolgt hat, wird bereits wissen, was geschehen ist und wie dieser Interessenkonflikt aufgelöst wurde. Aber Facing War bietet auch hierzu mit einem Blick hinter die Kulissen Erkenntnisse und Details, die die nach außen hin spärlichen Errungenschaften in ein neues Licht rücken.

Es scheint auf den ersten Blick, als könnte eine Dokumentation, die hauptsächlich aus Gesprächen in zahlreichen, sich meist ähnelnden Bürogebäuden besteht, kaum fesseln, doch das Gegenteil ist der Fall. Auch, da immer wieder eingestreute Archivaufnahme aus der Gründungszeit des Verteidigungsbündnisses gleichermaßen unterstreichen, wie wenig sich in 75 Jahren Bestehen der NATO verändert hat, und zudem, wie viel heute doch anders ist, als damals. Filmemacher Gulliksen begleitet Stoltenberg ins Oval Office im Weißen Haus, zeigt ihn im NATO-Hauptquartier in Brüssel oder auf zahlreichen anderen Empfängen. Er ist an seiner Seite, wenn der Generalsekretär 14 Monate nach Beginn des Angriffskrieges erstmals die Ukraine besucht und entlockt ihm Aussagen, die nur mit dem zeitlichen Versatz nach Stoltenbergs Amtszeit veröffentlicht werden können.

Das Publikum darf miterleben, wie in Meetings einzelne Formulierungen von Reden des Generalsekretärs abgewogen, diskutiert und verworfen werden. Jedes Wort wird auf die Goldwaage gelegt, um einen politischen Balanceakt zu meistern. Dafür bedarf es mitunter sogar Sprechtrainings, so dass nicht aus Versehen ein falsch ausgesprochenes Wort eine internationale Krise heraufbeschwört. Tommy Gulliksen gibt Aufschluss, wie Körpersprache ein essentieller Bestandteil von Stoltenbergs Auftreten ist, dass seine Arbeit darin besteht, unterschiedliche Interessen in Einklang zu bringen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen, selbst wenn einem alle Seiten sagen, man tue nicht genug. Wie anstrengend und frustrierend zugleich dies sein muss, wissend, dass man trotz der Lenkungswirkung keine Macht hat, etwas durchzusetzen, kann man sich kaum vorstellen. Man sieht Stoltenberg an, wie es an ihm nagt, dass die Unterstützung der Mitgliedstaaten gegenüber der Ukraine nachlässt, während die NATO einen Jahrestag feiert und zugleich in Europa ein Krieg tobt.

All dies gelingt Facing War auf eine unaufgeregte, aber gleichzeitig immens faszinierende Art und Weise. Die persönlichen Einblicke in Stoltenbergs Vergangenheit runden das Porträt jenes Mannes ab, der weiß, dass er mobilisieren und die Moral hochhalten muss, auch wenn er das Versprechen, das er dem ukrainischen Volk gegeben hat, vermutlich nicht wird halten können. Jeder Fortschritt, so klein er sein mag, ist hart erkämpft in endlosen Gesprächen, Absprachen und Vermittlungen, die nicht nur auf inhaltliche Argumente setzen, sondern auf Vertrauen und Emotionen der Verhandlungsführenden. Diese Gratwanderung der Diplomatie auf höchstem Niveau zu beobachten, ist so aufschlussreich wie stellenweise verblüffend. Manches Mal scheint es gar wie eine Wette, bei der die Verantwortlichen über das Schicksal von unzähligen Menschen entscheiden. Doch die Ernsthaftigkeit und Überzeugung, mit der der Generalsekretär hier auftritt, sind nicht nur inspirierend, sie sorgen auch dafür, dass seine politischen Errungenschaften umso wertvoller erscheinen, wenn man sieht, wie viele Verhandlungen und Vorbereitungen hineingeflossen sind.


Fazit:
Es klingt nach einem nicht auflösbaren Dilemma, vor dem der NATO-Generalsekretär steht. Wie die Ukraine unterstützen, ohne den Krieg, den Russland begonnen hat, zu eskalieren? Jens Stoltenberg findet eindeutige Antworten und lässt das Publikum an seinen Überzeugungen wie Abwägungen teilhaben, was erforderlich ist, um dauerhaften Frieden in Europa zu erlangen. Dabei bleibt er trotz allem hoffnungsvoll und strahlt auch deshalb eine Integrität aus, die überspringt, wenn er engagiert seine Ziele zu erreichen sucht, selbst wenn sein Weg voller Rückschläge scheint. Tommy Gulliksens Blick hinter die Kulissen verdeutlicht zudem, wie viele Überlegungen und Gespräche, wie viel Planung in eine einfache Aussage vor versammelter Presse fließt. Das ist in manchen Belangen frustrierend, aber es lässt einen mit Respekt und Achtung auf diese Entscheidungen blicken, selbst wenn man inhaltlich mit ihnen nicht einverstanden sein mag. Facing War ist gleichermaßen so faszinierend wie aufschlussreich, was die Persönlichkeit des Mannes im Fokus anbelangt, der sich mit jeder Faser seines Körpers dieser verantwortungsvollen und schier unerfüllbaren Aufgabe als Diplomat verschrieben zu haben scheint. Was dies auch körperlich fordert, ist ihm anzusehen. Packend aufgebaut erzählt, fühlt sich die Dokumentation in dieser Beziehung wie eine Anerkennung für einen Politiker an, der mit seinem Geschick die Welt geprägt hat, ohne dafür im Rampenlicht zu stehen. Doch die Einblicke in die Entscheidungsprozesse, in die Diplomatie in Kriegszeiten, die schier endlosen Gespräche und Treffen sind es, die noch nachhaltiger in Erinnerung bleiben.
Stark und wichtig!