Wege des Lebens - The Roads Not Taken [2020]

Wertung: 2.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 11. Juli 2020
Genre: Drama

Originaltitel: The Roads Not Taken
Laufzeit: 85 min.
Produktionsland: Großbritannien / Schweden / USA / Polen / Spanien
Produktionsjahr: 2020
FSK-Freigabe: ohne Altersbeschränkung

Regie: Sally Potter
Musik: Sally Potter
Besetzung: Javier Bardem, Elle Fanning, Salma Hayek, Laura Linney, Branka Katić, Milena Tscharntke, Gerard Cordero, Dimitri Andreas, Katia Mullova-Brind, Debora Weston, Aaron Joshua


Kurzinhalt:

Es ist ein Tag im Leben von Leo (Javier Bardem), der allein in einem Apartment in New York City lebt. Leo leidet an Demenz und als er an diesem Tag der Pflegerin die Tür nicht öffnet, ist seine Tochter (Elle Fanning) überaus besorgt. Sie hatte mit ihm für diesen Tag ohnehin zwei Termine vorgesehen, doch für die Zeit, die sie mit ihrem Vater verbringt, wird sie in der Arbeit zunehmend ausgegrenzt. So muss sie sich der Frage stellen, ob sie sich für ihr eigenes Leben entscheidet, oder sich weiter in dem Umfang um ihren Vater kümmern will. Der stand in seinem Leben oftmals vor ähnlich einschneidenden Entscheidungen. Hätte er sich nicht entschieden, in die USA zu gehen, wäre er womöglich mit seiner Jugendliebe Dolores (Salma Hayek) immer noch in Mexiko und hätte nie die Mutter seiner Tochter, Rita (Laura Linney), kennengelernt. So voller Möglichkeiten das Leben ist, jeder Weg, den man nicht gegangen ist, birgt das Risiko, etwas zu bedauern …


Kritik:
Die Widmung ganz am Ende von Wege des Lebens - The Roads Not Taken lässt erahnen, dass das Drama um Verlust und Entscheidungen, die das eigene Leben grundlegend prägen, eine ganz persönliche Bedeutung für Filmemacherin Sally Potter hat. Aber trotz zweier sehenswerter Darbietungen von Javier Bardem und Elle Fanning, gelingt es ihr nicht, diese Bedeutung dem Publikum gegenüber zu vermitteln, geschweige denn eine Geschichte zu erzählen, die am Ende eine greifbare Aussage bereithält. Ungeachtet der geringen Laufzeit ist das spürbar lang und auch deshalb frustrierend.

Wie langsam Wege des Lebens - The Roads Not Taken erzählt ist, wird bereits zu Beginn deutlich, wenn die verschiedensten Beteiligten vor einem schwarzen Hintergrund eingeblendet werden und es gefühlt drei Minuten dauert, bis überhaupt das erste Bild zu sehen ist. Währenddessen sind die Geräusche einer Hochbahn zu hören. Die ersten Momente zeigen den in einem Bett liegenden Javier Bardem, beinahe regungslos, während Telefon und Türklingel geläutet werden. Kurz darauf wird Elle Fanning vorgestellt, seine Tochter, die sich besorgt auf dem Weg zu ihm befindet. Sie findet ihren Vater, Leo, in einem katatonischen Zustand, orientierungslos und verwirrt. Auch wenn der Film ausdrücklich darum bemüht ist, nicht zu erwähnen, was ihm fehlt, – so sehr, dass es das Publikum beinahe schon wütend macht, – Leo leidet offenbar an Demenz. Wie lange es ihm bereits so ergeht, weshalb er in diesem Zustand, ohne eine Betreuung rund um die Uhr, alleine in einem Apartment in New York wohnt, verrät der Film nicht. Die Geschichte folgt ihm und seiner Tochter an einem Tag und gleichzeitig in unterschiedliche Leben.

Regisseurin und Autorin Sally Potter springt in ihrer Erzählung zwischen drei verschiedenen Ebenen hin und her. Einerseits der Erzählebene in New York, dann einer anderen, in der Leo mit einer Frau namens Dolores in Mexiko lebt, und einer, in der Leo an der griechischen Küste auf zwei junge Urlauberinnen trifft. In der ersten und der letzten ist Leo Autor, in beiden offenbar nicht so erfolgreich, wie er es gern erhofft hatte. Die drei Ebenen spielen nicht in unterschiedlichen Zeiten, sondern zeigen vielmehr, wie sich Leos Leben entwickelt hätte, hätte er sich an bestimmten Punkten in seinem Leben für einen anderen Weg entschieden. Die Überlegungen, was hätte sein können, hätte man sich nicht entschieden, mit dem Zug zu fahren, sondern wäre mit dem Auto zu einem Termin gefahren, wenn man an Wegstationen anders abgebogen wäre, sind nicht neu. Aber sie beinhalten nichtsdestoweniger ein philosophisches Element, das es durchaus wert ist, erörtert zu werden. Umso mehr in einer Zeit, in der viele Menschen mehr Entscheidungsmöglichkeiten als je zuvor zur Verfügung haben.

Wege des Lebens - The Roads Not Taken ist zwar ein Drama, deutet aber an, dass vielleicht auch mehr hinter alledem stecken könnte, wenn sich der demente Leo an Ereignisse erinnert, die sich in den alternativen Erzählungen ereignen. Wirklich verfolgt wird dieser Ansatz nicht. Stattdessen schildert die Filmemacherin, wie Leos Tochter ihn zum Zahnarzt und zum Optiker mitnimmt, in beiden Fällen nicht nur mit dem Unverständnis der Menschen angesichts des Zustands ihres Vaters konfrontiert, sondern gleichzeitig mit alltäglichen Anfeindungen gegenüber Menschen, die nicht in den USA geboren wurden, selbst wenn Leo bereits seit 30 Jahren dort lebt. Dass ihre eigene Karriere darunter leidet, dass sich Leos Tochter für ihren Vater einsetzt, wird ebenfalls gezeigt, aber doch ist der Film kein ausdrücklicher Kommentar zu den Herausforderungen der Pflege von Angehörigen mit solchen Beeinträchtigungen. Die Erzählung in Mexiko wartet dafür mit einem anderen Schwerpunkt auf, der sich erst am Ende findet und bei dem der Umgang von Leo und seiner Frau Dolores, gespielt von Salma Hayek, lange Zeit für Verwunderung sorgt. Die Aussage hier ist für sich genommen auch wichtig und intensiv dargebracht, aber da sie in einer einzigen Szene aufgearbeitet wird, ist sie schlicht zu schnell vorbei. Leos Erlebnisse in Griechenland werden schließlich dem Titel des Films am ehesten gerecht, dafür beschränkt sich auch hier die Entwicklung der Figur auf einen zentralen Dialog.

Was Sally Potter mit ihrem Film darum aussagen will, wird nie eindeutig klar. Ob dies ihr Versuch ist zu verstehen, wie es Menschen ergeht, die in ihrem eigenen Geist gefangen sind? Der Titel und Teile der Geschichte lassen vermuten, dass sie ergründen möchte, welche Auswirkungen die Abzweigungen des Lebens haben, die man nicht genommen hat. Und was mit dem Bedauern einhergeht, sich nicht für die eine, sondern für die andere entscheiden zu haben. Doch über diese Auswirkungen wird nur kurz gesprochen und da es in diesem Zusammenhang für die Figuren nie um handfeste Konsequenzen oder einen Verlust geht, bleibt der emotionale Effekt vollkommen auf der Strecke.
Mit der Kamera hält die Regisseurin so dicht an den Figuren, dass der jeweilige Hintergrund der Szene buchstäblich verschwindet und keine Rolle mehr spielt. Aber obwohl Leo als Person in jeder Szene zu sehen ist, wenn man sich lange Zeit fragt, wovon die Geschichte insgesamt und bei ihm im Speziellen handelt, verliert man schlicht das Interesse. Da hilft es auch nicht, dass sowohl Javier Bardem als auch Elle Fanning sichtbar engagiert sind. Sagt Leo am Ende schließlich den Namen seiner Tochter und sieht man ihre Reaktion, dann wird deutlich, wie viel ihr das bedeutet und wie wenig ihr Vater sie offenbar sonst erkennt. Doch wird das zuvor nie klar. Dass die Macher von Wege des Lebens - The Roads Not Taken es am Ende für erforderlich halten, den Kern der Erzählung von einer Figur in Worte fassen zu lassen, zeigt auch, wie wenig Vertrauen sie haben, dass das Publikum den Sinn der Geschichte erkennt, ohne dass dies erklärt würde. Das liegt aber nicht am Publikum, sondern daran, dass die Erzählung die zentralen Aussagen nicht entsprechend herausarbeitet.


Fazit:
Zumindest für zwei der drei Erzählstränge gibt es am Ende ein emotionales „Finale“, bei dem deutlich wird, was die Figuren bewegt. Doch kommen diese Offenbarungen zu spät, wenn man bis dahin nicht in der Lage war, eine Verbindung zu den Figuren aufzubauen. Für Leo fällt das bereits deshalb schwer, weil er in den drei Ebenen unterschiedlicher kaum sein könnte. So sieht man zwar die künstlerische Leistung der Besetzung, mitgerissen wird man davon jedoch nicht. Die zwei zentralen Darbietungen treiben eine Erzählung an, die inhaltlich nicht weiß, was sie sein möchte und bei der Regisseurin Sally Potter den Figuren keinen Anfang und kein Ende zuschreibt. All dem zuzusehen, wäre im besten Fall verschenktes Potential, aber Wege des Lebens - The Roads Not Taken ist derart zäh aufbereitet, dass es beinahe ärgerlich ist. Mit einer Laufzeit von gerade einmal 80 Minuten ohne Vor- und Abspann, ist das Drama darüber hinaus spürbar (zu) lang.