Was geschah mit Bus 670? [2020]

Wertung: 5.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 13. Oktober 2020
Genre: Drama

Originaltitel: Sin Señas Particulares
Laufzeit: 97 min.
Produktionsland: Mexiko / Spanien
Produktionsjahr: 2019
FSK-Freigabe: ab 16 Jahren

Regie: Fernanda Valadez
Musik: Clarice Jensen
Besetzung: Mercedes Hernández, David Illescas, Juan Jesús Varela


Kurzinhalt:

Es klingt mehr wie eine Entscheidung, denn eine Frage, als der Jugendliche Jesús (Juan Jesús Varela) seiner Mutter Magdalena (Mercedes Hernández) mitteilt, dass er mit einem Freund zusammen aus Zentral-Mexiko nach Arizona in die Vereinigten Staaten gehen wird, um dort Geld zu verdienen. Der Onkel des Freundes hätte die Möglichkeit, sie über die Grenze zu bringen. Zwei Wochen später hat Magdalena nichts von ihrem Sohn gehört. Als die Leiche des Freundes entdeckt wird, macht sie sich auf, die Route ihres Sohnes nachzuvollziehen, um ihn zu finden. Die führt Magdalena an einen der gefährlichsten Orte der Welt, nach Nord-Mexiko. Auf ihrer Suche nach der Wahrheit begegnet sie unter anderem Miguel (David Illescas), der nach fünf Jahren illegalen Aufenthalts in den USA abgeschoben wurde. Beide ahnen nicht, wie stark ihre Schicksale miteinander verwoben sind …


Kritik:
Es klingt wie eine harmlose Frage: Was geschah mit Bus 670? Sie ist der Ausgangspunkt für eine Suche, die die Mutter Magdalena auf sich nimmt, um ihren Sohn Jesús zu finden. Der war mit einem Freund zusammen auf dem Weg zur mexikanisch-amerikanischen Grenze und ist spurlos verschwunden. So zermürbend die Ungewissheit um seinen Verbleib, was sie schließlich entdeckt, wird ihre schlimmsten Befürchtungen weit übertreffen. Und das Publikum gleichermaßen erschüttern.

Nach offiziellen Angaben sind von 2006 bis 2019 in Mexiko mehr als 60.000 Menschen verschwunden. Ohne Hinweise auf ihren Verbleib, oder weshalb sie nicht auffindbar sind. Es gab keine Lösegeldforderungen. Tausende Leichen sind im Gegenzug entdeckt worden, teils in Massengräbern. Der Kontext mag erklären, weshalb Magdalena, als sie zwei Wochen nach dem Verschwinden ihres Sohnes bei der Polizei ist, eine solche Hoffnungslosigkeit in ihren Augen trägt. Mehr noch als Traurigkeit. Der Onkel seines Freundes wollte ihm und Jesús eine Arbeit in Arizona besorgen – zwei minderjährigen Jungen. Bei der Polizei bekommen die Mütter der Jungen gesagt, dass man nichts tun könne, doch man zeigt ihnen einen Ordner mit unzähligen Bildern von Leichen, die nahe der Grenze entdeckt wurden. Jesús’ Freund ist darunter, Magdalenas Sohn nicht. Er könnte noch am Leben sein, darum macht sie sich auf, seine Route nachzuvollziehen.

Um verschiedene Aspekte des bedauerlicherweise nicht fiktiven Hintergrunds zu beleuchten, stellt Filmemacherin Fernanda Valadez ihrer Hauptfigur Magdalena jeweils einen weiteren Charakter an die Seite, der dieselbe Geschichte erlebt hat, jedoch aus einem anderen Blickwinkel. So wird eine weitere Mutter zu Beginn gerufen, die Leiche ihres Sohnes zu identifizieren, der seit vier Jahren verschwunden war. Kommen Magdalena und Jesús aus ländlichen, ärmlichen Verhältnissen, ist diese Mutter Ärztin und gut situiert. Doch trotz der gegensätzlichen Lebensumstände, treffen sie sich an demselben Punkt in ihrem Leben. Wie vielen es so ergehen muss, kann man nur erahnen, wenn diese Frau in einem Transporter steht, in dem ein Dutzend Leichen aufgestapelt sind, um Identifizierungen vorzunehmen. Unterhalten sich diese zwei Mütter mit resignierender Akzeptanz darüber, dass ihre Kinder tot sind, vermutlich ermordet wurden, ist das schlicht erschütternd.

Der Ungewissheit verleiht Was geschah mit Bus 670? mit Miguel ein Gesicht. Der junge Mann wird als illegaler Einwanderer nach fünf Jahren aus den USA nach Mexiko abgeschoben und ist auf dem Weg zurück zu seiner Mutter, als er auf Magdalena trifft. Er könnte damit das Schicksal repräsentieren, das ihrem Sohn widerfahren ist. Doch was Miguel zuhause vorfindet, stellt alles, was er auf sich genommen hatte, in Frage.
Folgt Magdalena ihrer Spur, die sie zu der Busgesellschaft führt, bei der hinter vorgehaltener Hand eingestanden wird, dass immer wieder Busse verschwinden, oder ohne Passagiere zurückkehren, dann zeichnet das Drama das Bild eines Landes, in dem die Menschen in ständiger Angst leben müssen. Ein Land, in dem nicht klar ist, ob der Staat das Gewaltmonopol innehat, oder örtliche Banden, und in dem Recht und Ordnung Wunschgedanken einer Bevölkerung sind, die wie Lämmer auf die Schlachtbank geführt wird.

Regisseurin Valadez rückt diese drei Figuren, ebenso wie die trauernde Mutter des getöteten Jungen zu Beginn, in wörtlichem Sinne in den Fokus. Generell sind nur wenige andere Figuren zu sehen, in Dialogen verharrt die Kamera auf den Charakteren im Zentrum und fängt jede Regung ein, so dass die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner lediglich zu hören sind. Selbst der Hintergrund ist oft undeutlich, was auf greifbare Weise unterstreicht, wie stark eingeschränkt die Welt dieser Personen ist. Dabei sind sie alle auf der Suche. Die einen nach Freiheit und einer Perspektive für die Zukunft. Die anderen nach Hoffnung oder einander. Was geschah mit Bus 670? ist ein sehr zurückhaltender und gleichzeitig intensiver Film. Er verleiht vielen namenlosen Schicksalen ein Gesicht und er tut dies mit einer letztendlichen Wucht, der man sich nicht entziehen kann. Ob die künstlerische Entscheidung, dem Bösen ein Gesicht zu verleihen, sich in die Erzählung nahtlos einfügt, sei dahingestellt. Aussagekräftiger könnten die Einstellungen kaum sein.


Fazit:
„Hier verschwinden viele Menschen“, bekommt Magdalena während ihrer Suche nach ihrem Sohn gesagt. In dem Eingeständnis schwingt etwas mit, das man nicht erwarten würde: Das stille Hinnehmen, dass sich daran nichts ändern wird. Bekommt Magdalena in einem Augenzeugenbericht geschildert, was mit Opfern der Schleuser und Banden geschieht, dann ist das zutiefst beunruhigend und schockierend zugleich. In der Hauptrolle zeigt die stets beherrschte Mercedes Hernández eine Tour de Force, die nachwirkt. Wer wie sie zu Beginn glaubt, dass es nichts Schlimmeres als die Ungewissheit gibt, was ihrem Sohn widerfahren ist, der irrt. Die letzten 10 Minuten gleichen einem Schlag in die Magengrube, von dem sich das Publikum nicht erholt. Geradezu dokumentarisch gefilmt und ebenso authentisch gespielt, ist Was geschah mit Bus 670? ein gleichermaßen tragisches wie fassungslos machendes Drama, dessen Wirkung sich langsam entfaltet. Fernanda Valadez’ Spielfilmregiedebüt ist ein starker und ebenso bildgewaltiger Film, bei dem das Publikum starke Nerven benötigt.