Victim [2022]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 8. April 2023
Genre: Drama

Originaltitel: Obeť
Laufzeit: 91 min.
Produktionsland: Slowakische Republik, Tschechische Republik, Deutschland
Produktionsjahr: 2022
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Michal Blaško
Musik: Hudba
Besetzung:
Vita Smachelyuk, Gleb Kuchuk, Igor Chmela, Viktor Zavadil, Inna Zhulina, Alena Mihulová, Veronika Weinhold, Gabriela Míčová, Claudia Dudová


Kurzinhalt:

Als sie erfährt, dass ihr Sohn Igor (Gleb Kuchuk) angegriffen wurde und im Krankenhaus liegt, fährt die alleinerziehende Irina Zyrchenkova (Vita Smachelyuk) so schnell wie möglich in die Tschechische Republik zurück. Sie war in ihrer Heimat in der Ukraine, um Unterlagen zu holen, die sie für die Einbürgerung benötigt. Igor, ein erfolgreicher Wettkampfturner, musste operiert werden und wird seine bisherigen Karrierepläne wohl aufgeben müssen. Als die Nachricht über den Angriff bekannt wird, wird Irina von einem Bekannten ihres Sohnes aufgesucht, Selský (Viktor Zavadil), der den Vorfall bekanntmachen möchte und nicht nur eine Journalistin dafür interessieren kann, sondern auch einen öffentlichen Marsch gegen Gewalt organisiert. Die Aufmerksamkeit für den Angriff auf Igor nimmt immer größere Ausmaße an, bis dieser Irina gesteht, was wirklich geschehen ist. Dabei hat auch Polizist Novotný (Igor Chmela) Zweifel an den bisherigen Schilderungen, doch die Situation gewinnt eine Dynamik, die Irina nicht mehr aufhalten kann und bei der es weitere Opfer gibt …


Kritik:
Auf wahren Ereignissen basierend, erzählt Filmemacher Michal Blaško im ruhigen Victim die Geschichte einer alleinerziehenden Mutter, die sich in einem fremden Land ein neues Leben aufbauen will und deren Sohn nach seiner Aussage Opfer eines Angriffs wurde. Doch die Dinge sind nicht wie sie scheinen und die Situation erhält eine Eigendynamik, durch die das Titel gebende Opfer letztlich nicht mehr klar zu benennen ist. Das erste ist wie so oft die Wahrheit.

Zusammen mit ihrem Sohn Igor zählt Irina zur am stärksten vertretenen, wenn auch nicht vollständig akzeptierten Minderheit der Ukrainerinnen und Ukrainer in der Tschechischen Republik. Die tschechische Staatsbürgerschaft hat Irina bereits beantragt und verdient sich den Lebensunterhalt als Reinigungskraft. Ihr Ziel ist es, zusammen mit ihrer Freundin Sweta einen Friseursalon zu eröffnen. Als sie in den Ukraine war, um Dokumente zu besorgen, erreichte sie die Nachricht, dass Igor ins Krankenhaus gebracht und operiert werden musste. Zurück an der Seite ihres Sohnes, erfährt sie, dass er von drei Jugendlichen angegriffen worden sein soll. Solche Angriffe seien in der Wohnsiedlung keine Seltenheit, wie ein Freund von Igor, Selský, Irina mitteilt. Die schuldigen sind schnell gefunden: In dem Plattenbau wohnende Angehörige der Roma. Selský ist wie Igor Wettkampfturner und engagiert sich dafür, dass dessen Fall öffentlich gemacht wird. Er bittet eine befreundete Journalistin, sich dessen anzunehmen und organisiert einen Solidaritätsmarsch, dem sich in kürzester Zeit hunderte Menschen anschließen. Doch dem ermittelnden Polizist Novotný kommen Zweifel an Igors Darstellung und Igor selbst gesteht seiner Mutter schließlich, dass sich die Situation anders zugetragen hat.

Nun steht Irina vor einer schwierigen Entscheidung: Igors Lüge zuzugeben und so nicht nur die Verurteilung durch die Öffentlichkeit in Kauf zu nehmen, oder die Lüge am Leben halten und versuchen, so viel Schaden wie möglich zu verhindern?
Die Antwort darauf macht Victim seinen Figuren nicht so einfach, wie man vermuten würde. Denn nicht nur der geplante Marsch entwickelt eine große Zugkraft. Durch die medienwirksame Darstellung wird Irina sogar von der Bürgermeisterin aufgesucht, die ihr eine vergünstigte Unterkunft in einer neugebauten Wohnsiedlung in Aussicht stellt und sie bei der Einbürgerung unterstützen möchte. All das würde im Zweifel gefährdet, von der Rufschädigung, auch für Irinas Friseursalon, ganz zu schweigen.

Filmemacher Blaško widmet sich beiden Erzählsträngen, demjenigen um Irina und ihren Sohn, und verwebt sie unmittelbar miteinander. Dabei verlagert er nach und nach den Blickwinkel auf die Ereignisse, zeigt Irina und ihren Sohn eingangs als Opfer von systemischer Ausländerfeindlichkeit und Ausgrenzung, um wenig später zu beleuchten, wie größere Minderheiten der Gesellschaft kleinere wie die Roma mit denselben rassistischen Vorurteilen belegen und ausgrenzen. Es ist ein System, das stets die am wenigsten vertretenen als die Schuldigen benennt und ein Urteil fällt, noch ehe überhaupt die Anklage verlesen ist. So stellt sich die Frage, ob die Feindseligkeit, die Irina entgegenschlägt, wenn sie bei ihren Nachbarn in der Wohnung eingeschlossen wird, nicht mehr ist als die Erwiderung der Ablehnung, die ihnen selbst ständig widerfährt. Wie sehr sich der Diskurs in der Öffentlichkeit verschiebt, arbeitet das Drama beim Solidaritätsmarsch heraus, der sich im Grunde gegen Gewalt richtet, bei dem jedoch rechtsextreme Gruppierungen die Stimmung für sich nutzen, um einerseits gegen Minderheiten zu hetzen und gleichzeitig dazu aufzurufen, die Sicherheit in die eigenen Hände zu nehmen. Wird in diesem Kontext darauf hingewiesen, wer nicht schuldig ist, will die Wut-freudige Menge das nicht hören.

Zurückhaltend und beobachtend nähert sich Victim einem Thema, das in Europa seit geraumer Zeit und seit einem Jahr mehr als zuvor hochaktuell und gleichermaßen universell ist. Wird Irina selbst zeitweise als Musterbeispiel für Integration verwendet, gerät ihr eigenes Schicksal und ihre Akzeptanz innerhalb der Gesellschaft zu einer Farce. Gleichzeitig wartet ein hasserfüllter Teil der Bevölkerung auf einen Vorwand, der Ablehnung von anderen freien Lauf zu lassen. Anfangs nicht gewollt, später nicht in der Lage, dem Einhalt zu gebieten, sitzt Irina mit ihrem Sohn zwischen den Stühlen. Sie versetzen das Publikum in die unangenehme Situation, sich einerseits zu fragen, wie man selbst auf eine solche Nachricht zu Beginn reagieren würde – und andererseits, wie man sich an Irinas Stelle entscheiden würde. Für beides gibt es keine einfachen Antworten.


Fazit:
Geradezu dokumentarisch widmet sich Filmemacher Michal Blaško seiner tragenden Figur, verharrt mit der Kamera auf ihr, sei es zu Beginn im Krankenhaus, wenn sie sich der buhenden Menge beim Solidaritätsmarsch stellt, oder am Ende bei einem an sich erhebenden Moment betreten zu Boden blickt. Ihre eigene Reaktion verrät mehr, als die zurückhaltenden Dialoge es könnten und Vita Smachelyuk gelingt eine bemerkenswerte Darbietung, wie auch Gleb Kuchuk. Thematisch hochaktuell, gibt es hier keine einfachen Lösungen. Weder in Hinblick auf den Rassismus, den die Figuren erleben, noch die Vorurteile, die sie anderen entgegenbringen. Verselbständigt sich die Lüge, ist diese kaum mehr aufzuhalten und ihre Dimensionen erkennt Irina erst am Ende. Victim ist ein intensiv gespieltes, sehenswertes Gesellschaftsdrama, das die Zerbrechlichkeit des zwischenmenschlichen Zusammenlebens ebenso beleuchtet wie diejenige der Demokratie im Allgemeinen. Mag sein, dass der Blick auch größer hätte sein können, doch ermöglicht die Perspektive eigene Möglichkeiten. Sich dem zu stellen, ist schwierig und anstrengend, aber nichtsdestoweniger wichtig.