Schwanengesang [2021]

Wertung: 5.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 27. Dezember 2021
Genre: Drama / Science Fiction

Originaltitel: Swan Song
Laufzeit: 112 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 2021
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Benjamin Cleary
Musik: Jay Wadley
Besetzung: Mahershala Ali, Naomie Harris, Awkwafina, Glenn Close, Adam Beach, Dax Rey, Aiden Adejuwon, Ace LeVere, Shema Cayden


Kurzinhalt:

In naher Zukunft steht der Designer und Familienvater Cameron Turner (Mahershala Ali) vor einer schwierigen Entscheidung. Er hat erfahren, dass er todkrank ist und jeder der Anfälle, die ihn heimsuchen, der letzte sein kann. Seine Frau Poppy (Naomie Harris) und seinen jungen Sohn Cory (Dax Rey) hat er bislang nicht eingeweiht, denn ihm wurde von Dr. Scott (Glenn Close) ein Angebot gemacht. Es wäre möglich, Cameron durch einen Klon auszutauschen, der nicht nur auf seinen Genen basiert, sondern über seine gesamten Erinnerungen verfügt und darüber hinaus nicht an derselben Krankheit leiden wird. Doch Voraussetzung für diesen Austausch ist, dass seine Familie hierüber nichts weiß. Zögerlich willigt Cameron ein, seinen Klon kennenzulernen, aber gerade, als er beim Erinnerungstransfer selbst nochmal erlebt, wie er mit Poppy zusammenkam, welche Höhen und Tiefen sie gemeinsam durchlebt haben, kommt es ihm falsch vor, dieses Leben an jemand anderen weiterzugeben. Doch Cameron rinnt seine ihm verbleibende Zeit durch die Finger …


Kritik:
Das Drama Schwanengesang stellt das Konzept von Hinterbliebenen, die um eine verstorbene Person trauern, auf den Kopf. Gleichzeitig stellt Filmemacher Benjamin Cleary in seinem Spielfilmregiedebüt, so wie es gute Science Fiction immer tut, relevante gesellschaftliche Fragen und konfrontiert das Publikum mit einem ethischen Dilemma, dem sich die Menschen vermutlich irgendwann einmal werden stellen müssen. Das ist ruhig erzählt, aber so fabelhaft präsentiert und eindringlich gespielt, dass es fesselt.

Die Geschichte selbst spielt in naher Zukunft. In ihrem Zentrum steht der erfolgreiche Designer Cameron Turner, der todkrank ist. Seiner Frau Poppy und seinem erst acht Jahre alten Sohn Cory hat er noch nichts davon erzählt. Denn er könnte Teil eines speziellen Programms von Dr. Scott werden, wenn er denn möchte. Sie bietet Cameron an, dass er durch einen Klon seiner selbst ausgetauscht werden könnte, der all seine Erinnerungen behält, aber nicht die genetische Veranlagung für seine tödliche Erkrankung besitzt. Die einzige Bedingung ist, dass seine Familie nichts davon erfährt. Wenn er seine Frau oder irgendjemand anderen einweiht, besteht die Möglichkeit nicht mehr. Hin- und hergerissen, ob Liebe ohne Verlust wahrhaftig sein kann, reist Cameron zu Dr. Scotts Einrichtung und lernt dort seinen Klon kennen. Es ist eine Begegnung, die ihn mit seinen eigenen Dämonen konfrontiert. Und damit, ob Cameron überhaupt möchte, dass jemand anderes seinen Platz für ihn einnimmt, wenn er gestorben ist.

So stellt sich irgendwann unweigerlich die Frage, ob ein solcher Austausch eines todgeweihten Menschen durch einen Klon ein selbstloser Akt ist, immerhin gibt man die Menschen, die einem wichtig sind, bewusst und bereitwillig in die Hände einer anderen Person, oder ein Akt größter Selbstsucht, wenn man der Meinung ist, nur man selbst könnte die Lücke füllen, die man im Leben der geliebten Menschen hinterlässt, wenn man stirbt. Die Antwort darauf überlässt Schwanengesang zwar dem Publikum, doch macht es das Drama selbigem noch schwerer, eine eindeutige Erwiderung zu finden. Nicht nur, dass Poppy vor einigen Jahren an einem anderen Verlust beinahe zerbrochen wäre, ihre Beziehung mit Cameron befindet sich an einem Scheideweg. Sieht Cameron daher seinen Klon in einem Videotelefonat mit Poppy in Erinnerungen schwelgen und ein Gefühl der Nähe und Intimität aufbauen, kann man Camerons Unbehagen, dass dies nicht er selbst ist, durchaus nachvollziehen. Aber ist Poppy mehr geholfen, wenn er aus ihrem Leben gerissen wird? Und hat sein Klon, ausgestattet mit all seinen Erinnerungen und Erfahrungen, nicht ebenfalls richtigerweise ein Interesse daran, dass Poppy Leid erspart bleibt?

Auf diese emotionale Ebene konzentriert sich Regisseur Cleary, dem es gelingt, den Science Fiction-Aspekt seines Films vollkommen in den Hintergrund zu rücken. Zwar sieht man die Weiterentwicklung von Kommunikationstechnik, autonomen Fahrzeugen und allerlei anderen Dingen. Aber all dies wird auf eine solch natürliche Art und Weise eingebunden, dass die Technik nicht um ihrer selbst Willen gezeigt wird, sondern um die menschlichen Aspekte der Geschichte klarer herauszustellen. Das Design dieser nahen Zukunft, insbesondere die Inneneinrichtung, die Bauten und Landschaft bei Dr. Scotts abgelegener Einrichtung, sind schlicht fantastisch. Sie wirken auch im Zusammenspiel mit der zahlenmäßig überschaubaren Besetzung auf ein geradezu erforderliches Maß minimiert und gleichermaßen beruhigend. In wohl ausgesuchten Bildern erstklassig eingefangen, ist die Optik von Schwanengesang auf eine zurückgenommene Art und Weise überwältigend mit erstklassig ausgewählten Perspektiven. Zudem ist nicht nur die Ausstattung bemerkenswert, denn gerade die Besetzung verleiht dieser zutiefst greifbaren Geschichte ihr emotionales Gewicht.

In seiner Doppelrolle als Cameron und dessen Klon zeigt Mahershala Ali eine preiswürdige Darbietung, die durch ihre vielen Nuancen und kleinen Unterschieden der beiden, gerade wenn sie entgegen ihrer sonst zurückhaltenden Art emotional reagieren, das Herz des Dramas ausmacht. Die Wut, die in Cameron aufsteigt, in Anbetracht des Kontrollverlusts, wenn sein Klon scheinbar mühelos das vollbringt, das ihn durch seine Krankheit unendlich mehr Kraft kostet, ist so spür- wie nachvollziehbar. Naomie Harris ist gleichermaßen ungemein gefordert. Dass ihr dies gelingt, obwohl der Film viele ihrer Szenen aus Sicht von Cameron zeigt oder nur in dargestellten Übertragungen, ist ihr hoch anzurechnen. Ebenso, dass die oftmals als komödiantische Figur besetzte Awkwafina hier in einer überaus ernsten Rolle glänzt. Als bereits geklonte Frau veranschaulicht sie Cameron und dem Publikum gleichermaßen, wie das Leben für Familienangehörige und die Klone weitergeht – aber auch, dass die Zurückgebliebenen ihre letzten Tage in Abgeschiedenheit und ohne ihre Familie an ihrer Seite bestreiten müssen. Bedenkt man, mit wie wenig Figuren sich Schwanengesang beschäftigt, ist es umso unerwarteter, wie unterschiedlich die Blickwinkel sind, die die Verantwortlichen mit ihnen vorzustellen vermögen.

Tatsächlich ist Benjamin Clearys Film eines nicht: Leichte Kost. Führt man sich Camerons Schicksal und seine unmögliche Wahl vor Augen, erlebt man in den Erinnerungen, die er an seinen Klon überträgt, wie er Poppy kennenlernte, was beide verbindet und beinahe getrennt hätte, sieht man sich unweigerlich an seiner Stelle und mit der Frage konfrontiert, ob man das Angebot annehmen würde, das todgeweihte Selbst durch einen Klon austauschen zu lassen, oder nicht. Die Antwort darauf muss nicht immer so ausfallen wie hier und ist definitiv keine einfache. Doch das Publikum zum Nachdenken anzuregen, moralische und ethische Dilemmas zu präsentieren und uns damit zu konfrontieren, ist es, was gute Science Fiction-Geschichten ausmacht. Mag sein, dass das letzte Drittel mitunter etwas zu emotional geraten ist und manche Momente länger sind, als sie sein müssten. Doch die Quintessenz dessen, was Schwanengesang ausmacht, ist so sehenswert und ergreifend eingefangen, dass der Film für eine ruhige Zuschauerschaft eine uneingeschränkte Empfehlung ist.


Fazit:
Es verbergen sich viele interessante Fragen in Benjamin Clearys fantastisch eingefangenem Regiedebüt, die nicht alle notwendigerweise aufgelöst werden. Beispielsweise, wie Camerons Sohn Cory in einer Welt aufwachsen würde, in der ihn keine traumatisierenden und prägenden Erlebnisse wie der Verlust eines Elternteils erwarten würden. Auch die Frage, ob es Liebe ohne eine mögliche Trauer überhaupt geben kann, denn zeichnet Liebe nicht zum Teil auch aus, dass man fürchten muss, die Person, die man liebt, zu verlieren? Konfrontiert mit einem nur auf den ersten Blick einfach zu beantwortenden Dilemma, entwickelt das Drama hieraus eine dank der Darbietungen, allen voran von Mahershala Ali, packende Geschichte, die sich durch ihre ruhige Erzählung an ein ebenso ruhiges Publikum richtet. Erstklassig fotografiert und fabelhaft zurückhaltend ausgestattet, ist Schwanengesang ein ebenso nachdenklich stimmender wie emotional fesselnder Film, bei dem es keine einfachen Antworten gibt. Zugänglich, aber nicht unbedingt für eine breite Zuschauerschaft geeignet, ist das bestes Science Fiction-Kino mit Anspruch. Klasse!