Quiet Life [2024]
Wertung:
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Kritik von Jens Adrian |
Hinzugefügt am 19. März 2025
Genre: Drama
Originaltitel: Quiet Life
Laufzeit: 99 min.
Produktionsland: Frankreich / Schweden / Deutschland / Estland / Griechenland / Finnland
Produktionsjahr: 2024
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren
Regie: Alexandros Avranas
Musik: Tuomas Kantelinen
Besetzung: Chulpan Khamatova, Grigoriy Dobrygin, Naomi Lamp, Miroslava Pashutina, Eleni Roussinou, Lisa Loven Kongsli, Alicia Eriksson, Anna Bjelkerud, Lena Endre, Frans Isotalo, Johannes Kuhnke, Sofia Pekkari, Kristjan Üksküla
Kurzinhalt:
Es soll ein großer Tag für Sergei (Grigoriy Dobrygin), seine Frau Natalia (Chulpan Khamatova) und die beiden Töchter Alina (Naomi Lamp) und Katja (Miroslava Pashutina) sein, immerhin wird über ihr Asylgesuch in Schweden entschieden. Aus Russland geflohen, haben beide Eltern einen sehr guten Status aufgegeben, Natalia als Lehrerin und Sergei als Direktor eines Gymnasiums, bis er ins Fadenkreuz des Unterdrückungsregimes geriet. Doch trotz allem, was sie der Einwanderungsbehörde an Informationen bereitgestellt haben, wird ihr Antrag abgelehnt. Sollten sie keine neuen Beweise vorbringen, dass Sergei verfolgt und angegriffen wurde, werden sie abgeschoben. Dabei hat Katja den Angriff auf ihren Vater miterlebt, doch um das junge Mädchen zu schützen, wollten ihre Eltern Katja nicht als Zeugin vernehmen lassen. Nun geht es nicht anders, doch für Katja ist der Druck zu groß und sie fällt in einen komaähnlichen Zustand. In einer Klinik stellt Dr. Olsson (Lisa Loven Kongsli) fest, dass sie am Kinderresignationssyndrom leidet, für das ihre Eltern verantwortlich seien, da sie ihre Kinder mit der Belastung der familiären Situation überfordern. Um Katja überhaupt besuchen zu dürfen, müssen Natalia und Sergei Verhaltenskurse belegen, in denen sie unter anderem Lächeln trainieren. Unterdessen steigt auch auf Alina der Druck …
Kritik:
Alexandros Avranas’ kühles Drama Quiet Life über eine russische Flüchtlingsfamilie, die in Schweden im Jahr 2018 mit den Nachwirkungen der Ablehnung ihres Asylantrags zu kämpfen hat, hält das Publikum lange auf Abstand. Zu distanziert erscheinen die Figuren, zu beherrscht in Anbetracht dessen, was ihnen droht und der surrealen Umstände, in denen sie sich wiederfinden. Doch die Botschaft ist so wichtig wie unmissverständlich und berührt dank der Darbietungen, die einen jeweils unvermittelt treffen.
Dabei ist die aus Russland nach Schweden geflohene Familie Gallitzin um Vater Sergei, Mutter Natalia und die beiden Töchter Alina und Katja zu Beginn noch so hoffnungsvoll, selbst wenn sie es sich kaum anmerken lassen, als sie von zwei Behördenangestellten besucht werden und ihre Unterkunft inspiziert wird. Am nächsten Tag sollen sie in der Einwanderungsbehörde Bescheid erhalten, ob sie dauerhaft in Schweden bleiben können. Für die Familie sollte es im Grunde eine Formalie sein, immerhin wurde Sergei, in Russland Gymnasialdirektor, auf Grund seiner progressiven Einstellung eingeschüchtert und sogar lebensgefährlich verletzt. Von der Polizei wohlgemerkt. Seine jüngere Tochter Katja hat den Angriff mitangesehen, doch um sie nicht erneut zu traumatisieren, verzichten die Eltern darauf, sie als Zeugin von der Einwanderungsbehörde vernehmen zu lassen. Sergeis Schilderungen sollen ausreichen. Doch seine Aussage und die große Narbe an seinem Bauch genügen der Behörde nicht. Der Asylantrag wird abgelehnt und sofern sie keine neuen Beweise vorbringen oder Widerspruch einlegen, müssen sie in weniger als zwei Wochen das Land verlassen. So beschließen Sergei und Natalia, dass Katja doch aussagen soll. Aber das Mädchen ist von der Situation derart überfordert, dass es ohnmächtig wird und ins Koma fällt.
Kinderresignationssyndrom lautet die Diagnose, die in den letzten 25 Jahren tatsächlich eine große Anzahl der Kinder von Geflüchteten in Schweden befallen hat, nachdem der Asylantrag der Familien abgelehnt worden war. Um sich selbst zu schützen, ziehen sich die Kinder aus dem Leben zurück, fallen gewissermaßen in einen Dornröschenschlaf und sind nicht mehr ansprechbar. Katja kommt in eine spezielle Klinik, in der bereits ein Dutzend andere Kinder in katatonischem Zustand liegen. Es ist eine surreale Situation, die Quiet Life vorstellt, wenn Sergei und Natalia die Besuchsrechte für ihre unerklärlich erkrankte Tochter entzogen werden und sie Kurse belegen müssen, in denen sie Lächeln lernen sollen, ehe sie ihre Tochter wiedersehen dürfen. Ihnen wird eingetrichtert, dass sie vor ihren Kindern bestimmte Themen nicht besprechen sollen, um diese nicht zu belasten. Darunter die Vergangenheit, das Asyl, Probleme oder Angst im Allgemeinen. Es ist ein perfides Mittel, die Verantwortung für Katjas Zustand von dem Asylsystem, das den Geflüchteten die Hoffnung auf ein Leben in Sicherheit nimmt, hin zu den Eltern zu verlagern, die ohnehin an der Situation zu zerbrechen drohen. Dabei wissen die Kinder sehr wohl, was auf dem Spiel steht und was sie erwartet, sollten sie abgeschoben werden. Sie alle befinden sich in einer ausweglosen Lage, die nicht besser wird, als Sergei jeden Strohhalm ergreift, um in Schweden bleiben zu können, selbst wenn er dort nur als Putzkraft arbeitet.
Filmemacher Avranas beobachtet diese Figuren eher, anstatt sie zu begleiten. In vielen Situationen wahrt er eine Distanz, während sie Zurückhaltung üben angesichts des gesamten Verfahrens und der Unsicherheit, selbst wenn Katjas behandelnde Ärztin oder die Pflegerinnen in der Klinik ihnen direkt oder indirekt die Schuld am Zustand ihrer Tochter geben. Womöglich auch, weil sie wissen, dass ein Gefühlsausbruch ihre Position, in der sie kaum über Rechte verfügen, nur noch mehr schwächen würde. Diese Zurückhaltung macht es stellenweise schwer, sich in die Figuren hineinzuversetzen, doch sie sorgt auch dafür, dass die wenigen emotionalen Ausbrüche, die sie zulassen, eine umso größere Wirkung entfalten. Sei es, wenn sich Sergei an die unsichtbaren Beobachtenden des Gesprächs im Einwohnermeldeamt wendet oder wenn Alina zum ersten Mal im Detail erfährt, was ihrem Vater angetan wurde. Die lange Sequenz, in der sie im Zentrum steht, bricht einem beinahe das Herz und verliert Natalia schließlich bei einem Anblick im Krankenhaus die Fassung, ist dies derart ergreifend gespielt, dass man sich nicht abwenden kann.
Die Besetzung insgesamt, allen voran die beiden sehr jungen Darstellerinnen Naomi Lamp und Miroslava Pashutina, ist erstklassig, ebenso Chulpan Khamatova und Grigoriy Dobrygin in den beiden tragenden, erwachsenen Rollen. Zu sehen, wie sie versuchen, innerhalb des Systems das Richtige zu tun, nur um sich immer mehr von diesen Regularien zu entfernen, um ihre Familie zu retten, ist berührend und bewegend. Selbst dann, wenn Quiet Life die absurde Situation in der Klinik auf eine Art und Weise präsentiert, dass man meinen könnte, dies kann keinesfalls genau so passieren. Die emotionale Entrückung der an dem gesamten Asylprozess beteiligten Personen, seien es die beiden Angestellten, die zu Beginn die Wohnung inspirieren, die Bearbeiterin, die wortlos den Anhörungsraum verlässt, wenn Sergei seinem Anliegen Nachdruckt verleiht, oder die Ärztin Dr. Olsson, unterstreicht die Unmenschlichkeit, mit der Menschen innerhalb dieses Systems begegnet wird. Hinzu kommt die merklich sterile, karge Umgebung, sei es in der Geflüchtetenunterkunft, dem Amt oder der Klinik. Doch die Darstellung ist so abstrakt, dass es mitunter schwerfällt, sich darauf einzulassen. An der Aussagekraft ändert dies jedoch nichts.
Fazit:
Der Unterschied könnte kaum größer sein, wenn man die Hoffnung in den Augen der beiden Mädchen Alina und Katja zu Beginn sieht, vor dem Termin bei der Einbürgerungsbehörde, und ihre Hoffnungslosigkeit danach. So jung sie sein mögen, die Tragweite der Situation ist ihnen wohl bewusst, selbst wenn ihre Eltern es ihnen nicht erzählen. Die Aussicht, keinen Schutzstatus zu erhalten, ist vernichtend für die ganze Familie. Filmemacher Alexandros Avranas zeigt seine Figuren und die Umstände, ohne viel zu erklären, doch die Geschichte verdeutlicht greifbar, dass die Situation von Geflüchteten auch für die Jüngsten eine unendlich große Belastung darstellt. Von starken Darbietungen getragen, die einen unmittelbar berühren, ist Quiet Life stellenweise intensiv, aber doch trotz der Distanz mit Feingefühl erzählt. Dennoch erscheint das Drama etwas lang, was daran liegen mag, dass sich die surreale Situation im Mittelteil länger hinzieht, als sie müsste. So ruhig und stellenweise abstrakt dies in den Aussagen präsentiert ist, eignet sich das nur für ein ruhiges Publikum. Das ist nicht negativ gemeint.