One Hour Photo [2002]

Wertung: 5.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 25. Januar 2003
Genre: Drama / Thriller

Originaltitel: One Hour Photo
Laufzeit: 96 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 2002
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Mark Romanek
Musik: Reinhold Heil, Johnny Klimek
Darsteller: Robin Williams, Connie Nielsen, Michael Vartan, Dylan Smith, Erin Daniels, Gary Cole, Eriq La Salle


Kurzinhalt:
Sy Parrish (Robin Williams) ist Fototechniker in einem Kaufhaus. Seit Jahren entwickelt er Filme für die Familie Yorkin und da sein eigenes Leben trist und öde ist, flüchtet er sich in die Illusion, dass er Teil dieser Familie sein könnte. Seine Versuche, mit Nina (Connie Nielsen), Will (Michael Vartan) und ihrem Sohn Jakob (Dylan Smith) in der realen Welt Kontakt aufzunehmen, werden immer eindringlicher, bis er von seinem Vorgesetzten Bill Owens (Gary Cole) gefeuert wird.
Als wäre das nicht genug, findet Sy heraus, dass Will seine Frau mit Maya Burson (Erin Daniels) betrügt.
Verzweifelt und am Boden zerstört, nimmt er das Schicksal selbst in die Hand und setzt damit eine Ereignisreihe in Gang, über die er die Kontrolle zu verlieren droht.


Kritik:
Bei manchen Filmen kann man sich nicht so recht entscheiden, ob sich die Filme die Zuschauer aussuchen, oder die Zuschauer den Film.
Es scheint manchmal, als wäre es eine Wechselbeziehung; Actionfilme oder Horror-Filme nach bekanntem Strickmuster, die auf offensichtliche (manchmal aber nicht weniger effektvolle) Erschreckszenen setzen, ziehen für gewöhnlich ein jüngeres Publikum an. Eines, das sich gerne ablenken lässt, das den Kinobesuch als Gesellschaftsereignis sieht und sich dementsprechend aufführt. Es wird laut gelacht, gerufen, ständig gequasselt und den anderen reiferen und interessierteren Zuschauern der Film dadurch dementsprechend vermiest.
Einen stillen Kodex, wie ihn ältere Kinobesucher noch in Erinnerung haben, nämlich, dass man das Geld an der Kasse lässt, um einen Film zu sehen, und nicht, um die anderen Zuschauer beim Tratschen zu hören, scheint es bei der jungen Generation nicht zu geben. Ein Trauerspiel.
Doch man darf und soll nicht alle Zuschauer über einen Kamm scheren, denn es gibt in jeder Generation diejenigen, die still im Kino sitzen können und sich fasziniert vom Film in den Sitz verkriechen, und es gibt auch bei den Älteren welche, die partout nicht die Klappe halten können oder alle zwei Minuten am hell erleuchteten Handydisplay werkeln.
Manche Filme richten sich schon von der Thematik her mehr an ein männliches Publikum, andere eher an weibliche Zuschauer. Dies ist kein Vorwurf an die Zuschauer (ausgenommen diejenigen, die im Kino nicht den Mund halten, sobald der Film angefangen hat), und auch nicht an die Filme, es ist lediglich eine feststehende Tatsache.

Ebenso erwiesen ist, dass es Filme gibt, die beide Geschlechter ansprechen und die auch vor Altersgrenzen nicht halt machen. Die "mitteilungsbedürftigen" Jugendlichen sehen sich den Film gar nicht erst an, da er keine leichte Kinokost verspricht und die ruhigeren, erwachsenen und auch jugendlichen Zuschauer danken es ihnen damit, dass der Film trotz der Thematik – oder gerade wegen ihr – ein Erfolg wird.
One Hour Photo ist so ein Film; mit einem Budget von 12 Millionen Dollar (soviel bekommen Filmstars wie Robin Williams für gewöhnlich bei einem Film als Gage) spielte die Charakterstudie in den USA über 30 Millionen wieder ein – sicherlich nichts im Vergleich mit Größenordnungen von 300 Millionen Dollar, in denen sich die Herr der Ringe-Filme bewegen. Aber dennoch ein eindeutiger Beweis, dass es ein Publikum für solche Filme gibt (zumal der Film in den USA nur in einer geringen Kopienanzahl im Kino zu sehen war). Filme, die einen nachdenklich stimmen und nicht durch Effektschlachten, tränenreiche Dialogpassagen oder actiongeladene Szenen überzeugen wollen, sondern den Menschen dort ansprechen, wo es einem mehr oder weniger unangenehm ist – in seiner Psyche.

Regisseur Mark Romanek gelang mit seiner zweiten Kinoregiearbeit ein eindringliches Psychogramm, die Charakterstudie eines zutiefst verletzten Menschen, der seinen Mitmenschen – denen das Glück in den Schoß fiel und es nie erkannten – die Augen öffnet.
Als seine perfekte Welt vor seinen Augen zerbricht, begeht er die Flucht nach vorn.
Das Drehbuch bemüht sich, die Geschehnisse aus der Sicht des Hauptcharakters Sy Parrish zu zeigen, der jeden Abend in sein kaltes Apartment zurückkehrt und dessen einzige Ablenkung die Fotos einer Familie sind, die er seit ihrer Entstehung entwickelt. Er konnte anhand der Fotos in diese Familie hineinwachsen, schon vor der Geburt von Nina und Will Yorkins Sohn Jakob hat er ihre Fotos entwickelt und sich dabei in diese Familie hineingelebt. Er hat sich selbst Abzüge ihrer Bilder gemacht und diese mit nach Hause genommen.
Angesichts der abwechslungs- und detaillosen Welt seines Alltags war dies die Familie, zu der er immer gehören wollte. Jahre sind vergangen, bis er sich traute, auf die Familienangehörigen zuzugehen, ihren Gewohnheiten nachzueifern und ihr Interesse für ihn zu wecken.
Doch als Will Yorkin seine Frau betrügt, fühlt er sich verpflichtet, zu handeln; nicht nur, dass Will sie hintergeht, Nina weiß sogar davon und lässt ihn gewähren.
Für Sy eine unvorstellbare Gegebenheit, in die er mit richtender Hand eingreifen muss.

Der Star des Films – und er liefert dabei eine der besten Darstellerleistungen der letzten Jahre – ist ohne Zweifel Robin Williams, der ansich die Rolle des ewigen Komikers abonniert hat und hier als vielschichtiger, vereinsamter und gebrochener Mann gezeigt wird. Sein Spiel ist nicht nur intensiv, sondern durch seine Mimik und Gestik bringt er dem Zuschauer seinen Filmcharakter näher, als es mit einem zweistündigen Monolog möglich gewesen wäre. In einigen Szenen schafft er es tatsächlich, dass man sich vor ihm fürchtet, und das liegt nicht nur an seinen körperlichen Veränderungen: Williams nahm für die Rolle einige Pfunde zu, ließ sich blass schminken und lichtes rötlich-blondes Haar verpassen. Er wirkt in dem Film schon vom Aussehen her völlig anders, als man es gewohnt ist.
Sein Spiel mit den Mundwinkeln oder den Augenpartien ist eine Freude für den Zuschauer, zu sehen wie er von der unterwürfigen, passiven Haltung seines bisherigen Lebens aktiv wird, und der Gerechtigkeit genüge tun will, ist beeindruckend und vielleicht das Anstrengendste, das dieser Ausnahmedarsteller je gespielt hat.
Gemessen an seiner überragenden Leistung, die jeden Kritiker und Zuschauer überzeugen dürfte, müssen die anderen Darsteller mehr oder weniger kürzer kommen.

Sowohl Connie Nielsen, als auch der junge Dylan Smith spielen ebenso wie Michael Vartan und Erin Daniels sehr gut, wobei die letzteren beiden mit Sicherheit nicht die angenehmste Drehzeit ihrer Karriere hatten, angesichts der Szenen während des eigentlichen Finales.
Auch Gary Cole und Eriq La Salle (ER - emergency room) können restlos überzeugen. Schon an der Verteilung der sogenannten Screen-Time, die Zeit, die ein Darsteller auf der Leinwand verbringt, merkt man allerdings, dass der Film voll und ganz auf seinen Hauptdarsteller setzt, und das zurecht.
An der Besetzung gibt es nichts zu rütteln, sie alle gehen in ihren Rollen auf und harmonieren im Film perfekt miteinander, sogar Kinddarsteller Smith.

Glücklicherweise ist dem im Deutschen auch nicht die Synchronisation abträglich, vielmehr muss man dem Tonstudio und den Sprechern gratulieren, sie haben eine ausgezeichnete und natürliche Arbeit geleistet, angeführt von dem von Robin Williams gewohnten Synchronsprecher Peer Augustinski, der einmal mehr perfekt die Stimmung des US-Schauspielers einfängt und wiedergibt.
Aber auch sonst kann sich die deutsche Synchronisation von One Hour Photo sehen lassen, dass Darsteller wie Gary Cole und Eriq La Salle die gewohnten Sprecher haben, obwohl sie ansich keine Hollywoodgrößen sind und verhältnismäßig kurze Auftritte haben, ist nicht nur erfreulich, sondern ein Zeichen dafür, dass man sich bei der deutschen Synchronisation Mühe gegeben hat, die sich offensichtlich auch gelohnt hat.
One Hour Photo ist dadurch einer der äußerst seltenen und umso erfreulicheren Fälle, in denen man auch in der deutschen Synchronfassung das Gefühl hat, das man den Film in vollem Umfang genießen kann.

Aber nicht nur dadurch kann One Hour Photo gefallen, die Inszenierung ist ausgesprochen gut geraten, sehr ruhig, dafür eindringlicher. Mit einer ausgeklügelten und sehr interessanten Farbwahl, die bei Sy und seiner Arbeitsumgebung sterile, kalte Farben zeigt, darunter viel weiß, grau, aber auch Neonfarben, ist es bei der Familie Yorkin anders; hier herrschen warme, kräftige Farben vor, die sich dann ändern, wenn Sy in ihr Privatleben eindringt. Dann vermischen sich die hellen Farben und das kühle, sterile Einheitsgrau zu einem gelblichen Beige, das besonders beim Finale zu sehen ist.
Gerade aus dem Grund interessant zu sehen ist, dass in dem Moment, als Sy aus sich herausgeht, aktiv wird und damit Erolg zu haben scheint, er in einer freundlicheren Welt, mit viel mehr Farben ist. Eben durch seine kühle Farbumgebung sind die Fotos in seiner Wohnung noch intensiver, als ohnehin schon, sie zeigen den krassen Gegensatz zwischen seiner realen und seiner Traumwelt. Ein Verdienst des Setdesigners, der mit Filtern und gekonnten Farbabstimmungen schon visuell ein tiefgehendes und beeindruckendes Werk erschaffen hat. Die DVD-Version des Films wird dem wohl noch mehr Rechnung tragen, da Filme im Kino für gewöhnlich leicht ausgewaschen sind, schon auf Grund des Trägermaterials (Zelluloid).

Kamera und Schnitt wirken innovativ und bauen gerade in den schnelleren Szenen ein ungeheures Tempo auf; es wird sehr darauf bedacht, wann sich die Kamera Sy nähert, ihn in Großaufnahme zeigt, und wann er in seiner Umgebung wie verloren wirkt. Auch die Mimik und die Körperhaltung von Williams wird perfekt eingefangen, zum Teil durch recht ungewohnte aber sehr intuitive Schnittfolgen.
Man hat zu Recht das Gefühl, als wäre jede Szene, jeder Kameraschwenk beabsichtigt und durchdacht, um dem Zuschauer damit etwas zu zeigen und nahe zu bringen.

Gemeinsam mit der rhythmischen und gleichzeitig sphärischen Musik gelang eine Mischung, die momentan mehr oder weniger beispiellos im Kino zu sehen ist.
Reinhold Heil und Johnny Klimek waren beide an der Musik von Lola rennt [1998] beteiligt, und auch wenn es auf den ersten Blick etwas seltsam erscheint, die beiden in einer amerikanischen Produktion zu hören, erschufen sie eine musikalische Untermalung, die dem Film in manchen Szenen eine Dynamik und ein Tempo verleiht, dass man als Zuschauer den Atem anhält.
In anderen Szenen wird der Zuschauer durch ein klangliches Schweben auf eine Welt eingestimmt, die sich grundsätzlich von der familiären Melodie der Yorkins unterscheidet.
Ich bin nicht sicher, ob ihre Musik in einen anderen Film passen würde, aber sie auf einem Album zu hören ist sicherlich eine eindrucksvolle Erfahrung. Im Film selbst ist es einfach fantastisch und nicht besser zu machen. Sich für den Film eine andere Musik vorzustellen, ist gar nicht möglich.

Neben zahlreichen Details und Anspielungen innerhalb des Films, gibt es auch noch ein paar erwähnenswerte Referenzen, die einem hier und da ein verschmitztes Lächeln auf die Lippen zaubern können; so trägt Eriq La Salles Filmcharakter den Namen "James Van Der Zee" – in Wirklichkeit der Name eines innovativen Fotographen aus dem New Yorker Stadtteil Harlem. Das Hotel, in dem sich Maya und Will treffen, heißt im Übrigen "Edgerton"; Harold Edgerton ist der Erfinder des Foto-Blitzes.
Abgesehen davon gab es ursprünglich einige andere Schnittfassungen des Films, in denen unter anderem die Fotos, die Sy von Will und Maya im Hotel gemacht hat, am Ende gezeigt wurde, und auch eine Fassung, in der vor dem ohnehin sehr dezenten aber guten Vorspann das "Fox Searchlight"-Symbol in eine Negativ-Ansicht wechselte, um auf den Film einzustimmen.

One Hour Photo zeichnet sich durch mehrere Aspekte aus, die sich alle zu einem grandiosen Gesamtbild zusammenfügen.
Zum einen bekommt man einen Robin Williams zu sehen, der nie eindrucksvoller und besser gewesen ist; dadurch dass er eine völlig ungewohnte Rolle angenommen hat und diese so hervorragend ausfüllt, sollte ihm eine Oscarnominierung, wenn nicht gar die Trophäe selbst sicher sein – alles andere wäre eine himmelschreiende Ungerechtigkeit (man darf allerdings nicht vergessen, dass der Film auf Grund von "Sexuellem Inhalt und Sprache" in den USA erst ab 17 Jahren freigegeben wurde; dadurch disqualifiziert er sich praktisch schon selbst – dank inoffizieller Academy-Politik – von der Oscar-Verleihung).
Andererseits gibt es die sehr guten Mitdarsteller und eine ausgeklügelte und intelligente Inszenierung, die durch ein faszinierendes Farbenschema und eine atemberaubende Musik samt Kamera- und Schnittarbeit zu fesseln vermag.
Das Drehbuch umschifft gekonnt Klischees, deutet Vieles nur an, so dass man sich als Zuschauer selbst Gedanken machen soll, und verzichtet auch darauf, Gewalt ausgiebig zu zeigen.
Einen halben Punkt Abzug gibt es lediglich für die beiden Traumsequenzen, von denen die zweite nicht notwendig gewesen wäre und etwas fehlplatziert effekthascherisch wirkt.
Viele Sequenzen und Szenen jagen dem Zuschauer einen kalten Schauer über den Rücken und lassen einen gebannt auf die Leinwand schauen, da man wissen möchte, wie sich die Geschichte als nächstes entwickelt. - Denn das ist One Hour Photo zudem noch: Überraschend in einigen Szenen und in fast keiner Weise vorhersehbar.
Für wie viele, unzählige Fotos die Darsteller der Yorkin-Familie ein Lächeln aufsetzen mussten, möchte man sich lieber nicht ausmalen, allerdings gebührt auch diesen Fotografen ein großes Lob, denn die Fotos wirken allesamt natürlich und fügen sich in das Gesamtbild des Films nahtlos ein.

Herausgekommen ist ein intelligenter Film, der nachdenklich stimmt und unter die Haut geht. Manche mögen sich danach überlegen, nur noch Digitalkameras zu kaufen, andere sehen Menschen, denen sie beim Einkaufen begegnen oder mit denen man nur hier und da ein Wort wechselt, von nun an in völlig neuem Licht.
Denn was fast jeder Mensch im Alltag vergißt, ist, dass man nicht nur selbst ein Leben 24 Stunden am Tag besitzt – wer macht sich schon Gedanken über den kauzigen Kerl im Zeitschriftenladen, oder den Metzger hinter der Theke? Vielleicht tun wir's ja ab morgen. Vielleicht sollten wir es tun.


Fazit:
Robin Williams war nie besser und nie beunruhigender. Er spielt mit einer Leidenschaft, dass man Sy Parrish bemitleiden muss, ob man möchte oder nicht. Er wird nicht als psychopathischer Killer dargestellt, sondern als gebrochene Persönlichkeit, dessen Welt der Illusion von einem Tag auf den anderen zerstört wird.
Dem als Zuschauer beizuwohnen, ist ein Kinoerlebnis, das man sich nicht entgehen lassen sollte; dank der sehr guten Inszenierung und den ausgezeichneten Darstellern ist One Hour Photo ein Muss für Filmfans und solche, die es werden wollen.