Lost: Staffel 2 [2005 / 2006]

Wertung: 5.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 18. April 2020
Genre: Drama / Thriller

Originaltitel: Lost: Season 2
Laufzeit: 1239 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 2005 / 2006
FSK-Freigabe: ab 18 Jahren

Regie: Jack Bender, Stephen Williams, Alan Taylor, Adam Davidson, Eric Laneuville, Paul Edwards, Matt Earl Beesley, Roxann Dawson, Karen Gaviola, Deran Sarafian
Musik: Michael Giacchino
Besetzung: Matthew Fox, Terry O’Quinn, Jorge Garcia, Josh Holloway, Evangeline Lilly, Michelle Rodriguez, Daniel Dae Kim, Yunjin Kim, Naveen Andrews, Dominic Monaghan, Cynthia Watros, Adewale Akinnuoye-Agbaje, Emilie de Ravin, Harold Perrineau, Maggie Grace, Malcolm David Kelley, Michael Emerson, L. Scott Caldwell, Sam Anderson, Henry Ian Cusick, Tania Raymonde, John Terry, Katey Sagal, Mira Furlan


Kurzinhalt:

Während Sawyer (Josh Holloway), Jin (Daniel Dae Kim), Michael (Harold Perrineau) und Walt (Malcolm David Kelley) mit einem von Michael gebauten Floß versuchen, Hilfe zu finden, entdecken Jack (Matthew Fox), John (Terry O’Quinn), Kate (Evangeline Lilly) und Hurley (Jorge Garcia) auf der Insel, auf der sie alle nach einem Flugzeugabsturz gelandet sind, eine Luke im Boden. Darin trifft Jack auf Desmond (Henry Ian Cusick), der seit Jahren in einem Bunker sitzt und regelmäßig einen Countdown neu startet. Ist John der Überzeugung, hierin seine Bestimmung gefunden zu haben, sehen sich die Überlebenden einer immer größer werdenden Gefahr gegenüber: Die „Anderen“, vor denen die gestrandete Rousseau (Mira Furlan) Sayid (Naveen Andrews) gewarnt hatte, sind eine realere Bedrohung, als viele der Gestrandeten bislang vermuten. So beschließt Jack, mit Hilfe der Polizistin Ana-Lucia (Michelle Rodriguez) eine Armee aufzubauen. Dabei wissen sie nicht, gegen wen sie sich wehren – und die Fragen über den Ursprung oder die Bestimmung dieser Insel werden nur größer. Auch dann, als der Gruppe einer der „Anderen“ in die Hände fällt …


Kritik:
Mit der ersten Staffel präsentierten die Macher von Lost ein so erfrischend anderes und handwerklich perfekt umgesetztes Konzept einer Mystery-Serie, dass es war, als würde man eine 20-stündige Kinoproduktion sehen. Dafür gab es viel Lob und zahlreiche Preise – und die Erwartung, dass die Serie in der zweiten Staffel dem auch erneut gerecht werden würde. Nur wie soll man einen solchen Erfolg fortsetzen, geschweige denn steigern? In 24 Episoden schreiben die Autoren die Geschichte der etablierten Figuren fort und führen zahlreiche neue Charaktere ein. All das vor dem Hintergrund, dass die seltsamen Vorkommnisse auf der Insel weiter beleuchtet werden und das Publikum die Umrisse von Puzzlestücken gezeigt bekommt, ohne zu wissen, wie sie zusammenpassen sollen, oder welches Bild sie am Ende ergeben werden. Es ist ein schmaler Grat, auf dem sich die Erzählung bewegt, weiter Interesse zu wecken und nicht zu viel zu verraten, gleichzeitig aber so viel zu erklären, dass das Interesse auch erhalten bleibt. Dadurch, dass die Geschichte vom Strand weg an einen neuen Standort verlegt wird und nicht zuletzt durch die weiterhin hervorragende und geforderte Besetzung, gelingt das zum allergrößten Teil.

Zum Ende der ersten Season hatten die auf einer Insel nach einem Flugzeugabsturz gestrandeten Überlebenden um den Arzt Jack eine Luke im Boden entdeckt. Darin hoffen sie auf Antworten, was es mit diesem seltsamen Ort auf sich hat, an dem Monster aus Rauch einige von ihnen dahingerafft haben. Doch sind sie nicht allein und die größte Gefahr scheint nicht von den Monstern auszugehen, sondern von „den Anderen“. Auch gegen sie erhoffen sich Jack und John, die jeweils auf ihre Art Überlebende hinter sich versammeln, in der Luke Werkzeuge und Waffen, um sich zu verteidigen. Was sie dort unten jedoch finden, ist ein Computer, in dem alle 108 Minuten eine Zahlenkombination eingegeben werden muss – ob damit wirklich die Welt gerettet wird, wie der Mann, der dort unten seit drei Jahren lebt und diese Aufgabe wahrnimmt, ihnen erzählt, sei dahingestellt.
Parallel erzählen diese Episoden von den Erlebnissen der Gruppe, die mit einem Floß von der Insel losgesegelt ist und noch im vorangegangenen Staffelfinale auf „die Anderen“ getroffen war. Mit fatalen Folgen. Neue Figuren beinhalten zum großen Teil Überlebende, die sich während des Absturzes im hinteren Teil des Flugzeugs aufgehalten haben. Zwar wird ihre Geschichte nur in verkürzter Form vorgestellt, sie alle erhalten jedoch, wie aus der ersten Staffel gewohnt, Episoden, in denen in Rückblicken ihre Zeit vor dem schicksalshaften Flug geschildert wird.

Im Zuge dessen wird deutlich, dass sich die Autorinnen und Autoren bei Lost weiter auf etwas konzentrieren, was bereits in der ersten Staffel begonnen hatte: Die Geschichten der einzelnen Figuren miteinander zu verweben. Wird die Vergangenheit einer Person gezeigt, geschieht es nicht selten, dass mehrere von ihnen offensichtlich aufeinandertreffen, ohne es zu ahnen, oder sich nur flüchtig begegnen. So sieht man in einem Krankenhaus, in dem sich Shannon aufhält, Jack an ihr vorbeilaufen, oder es geben sich Jacks Vater und Sawyer buchstäblich die Klinke in die Hand. Dass diese Momente oftmals nicht herausgestellt werden, sondern eben tatsächlich beiläufig geschehen, unterstreicht, wie verstrickt die Schicksale der Beteiligten am Ende offenbar sind. Nicht wenige von ihnen sind durch Zufall in diesem Flugzeug gelandet. Dass Hurley, der sich selbst als Unglücksbringer sieht, alle Anzeichen, Hinweise und Hürden überwindet, um den Flug zu erreichen, obwohl es scheint, als wolle die Welt an sich ihn davon abhalten, besitzt etwas geradezu Poetisches.

Diese Verbindungen wären nur Mittel zum Zweck, würden sie alle nicht zu etwas führen. So bedauerlich es auf der einen Seite ist, dass einige Charaktere der ersten Stunde hier bedeutend weniger zu tun bekommen oder gar schon vollständig verschwunden sind, es ist vielleicht auch nur ein Zeichen dafür, dass die Erzählweise in Rückblicken, die jeweils eine Figur pro Episode ins Zentrum rückt, begrenzte Möglichkeiten bietet, die Charaktere zu entwickeln. Denn es lässt kaum Entwicklungen der Personen selbst zu und erläutert stattdessen, weshalb sie so sind, wie sie sind. Einige von ihnen scheinen damit schlicht bereits am Ende ihrer Entwicklung angekommen. Umso erfreulicher ist es, dass auch die neu hinzugekommenen jeweils ihren Moment zugeschrieben bekommen. Seien es Michelle Rodriguez, Cynthia Watros oder der immens charismatische Adewale Akinnuoye-Agbaje, sie alle werden gelungen in die bestehende Besetzung integriert. Dass L. Scott Caldwell als ebenso schweigsame wie hoffnungsvolle Rose zurückkehrt, die darauf vertraut, ihren Mann Bernard wiederzusehen, ist regelrecht herzerwärmend und ergibt umso mehr Sinn, wenn sie ihre eigene Episode bekommt. Dass Henry Ian Cusick für seine Darbietung eine Emmy-Nominierung erhielt, ist nur gerechtfertigt. Trotz seiner wenigen Auftritte als Desmond, der Jahre in der Luke verbracht hat, gelingt es ihm, eine so ermutigende wie tragische Figur zu erschaffen, dass das Staffelfinale nur umso dramatischer erscheint.

So sind es auch in Staffel 2 die Figuren, die Lost auszeichnen. Wäre es nicht um sie, würde es umso schwerer fallen, der Geschichte folgen zu wollen, die kaum Antworten auf Fragen des ersten Jahres findet und dafür nur noch mehr Mysterien aufwirft. Dass die im Staffelfinale in Spielfilmlänge, „Zusammen leben – Alleine Sterben“, stark zunehmen, wundert nicht, immerhin soll das Publikum für das kommende Jahr neugierig gemacht werden. Es wird jedoch auch Zeit, zumindest einige Fragen zu beantworten. Denn die Rätsel, die sich für die Überlebenden in der Luke auftun, ganz zu schweigen von der undefinierbaren Gefahr, die von „den Anderen“ ausgeht, werden nicht ewig Bestand haben können. Durch den Schauplatzwechsel weg von der Höhle hin zur Luke, dem ominösen Countdown sowie vor allem der Bedrohung, die immer größer zu werden scheint, halten sich die Macher viele Mittel und Wege offen, die Story voranzutreiben, ohne eine Richtung vorgeben zu müssen. Oder ein Ziel. Es bleibt abzuwarten, wie lange diese Taktik funktioniert.

Dass trotz der neuen Figuren zumindest der Kern der bestehenden nicht vernachlässigt wird, ist auf der einen Seite zwar erfreulich, es bleibt aber gleichzeitig zu hoffen, dass die Macher den Trend nicht beibehalten, neue Figuren einzuführen, die am Ende nicht weiter verfolgt werden. Dank der ausladenden Rückblicke in die Vergangenheit einzelner Charaktere, gelingt es den Machern, Antworten auf scheinbar einfache Dinge lange hinaus zu zögern. So dauert es sieben Episoden, nachdem die Überlebenden von der ebenfalls auf der Insel gestrandeten Rousseau einen Gefangenen erhalten, von dem sie glauben, er gehört zu „den Anderen“, bis der Storyzweig um seine Gefangenschaft einen Abschluss findet. Der eigentliche Informationsgewinn diesbezüglich bleibt innerhalb der Episoden mehr als überschaubar und doch kommt nie das Gefühl auf, die Story würde auf der Stelle treten. Aber ohne tatsächliche Antworten, wird das nicht ewig so weitergehen.


Fazit:
Es gibt zwei Säulen, auf denen Lost am Ende aufgebaut ist. Einerseits die Mystery-Story auf der Insel selbst, bei der auch in Staffel 2 neue Facetten entdeckt werden, andererseits die Hintergrundgeschichten der Figuren, denen jeweils eigene Episoden gewidmet werden. Hier gibt es insbesondere bei der Kernbesetzung um Jack, John, Sawyer, Kate, Hurley, Sayid sowie das Ehepaar Jin und Sun neue Aspekte zu entdecken, während auch neue Figuren entsprechend vertieft vorgestellt werden. Dass Harold Perrineau als Alleinerziehender phasenweise stark gefordert ist, ist überaus erfreulich, schien seine Figur in der ersten Staffel nicht derart involviert. Eine wirkliche Entdeckung ist Adewale Akinnuoye-Agbaje, dessen Charakter die vermutlich größte Wandlung durchlebt. Dass die Figuren allesamt erstklassig geschrieben sind, ist auch an den preiswürdig gespielten Charaktermomenten ersichtlich. Die Besetzung ist außergewöhnlich und dankenswerterweise auch gefordert.
Handwerklich hat sich an der erstklassigen Umsetzung nichts geändert. Sowohl die Ausstattung als auch Kamera und Schnitt befinden sich durchweg auf dem Niveau einer Kinoproduktion, von der ebenso mystischen wie teils einfühlsamen musikalischen Untermalung durch Michael Giacchino ganz zu schweigen. Die Highlights sind in Staffel 2 gleichmäßig verteilt: Sowohl der Auftakt als auch das Finale der Season zählen zu den besten Episoden des zweiten Jahres. „Psalm 23“, „Verriegelt“ und nicht zuletzt die tragische Folge „Zwei für unterwegs“ mit einem Ende, das sich vollkommen unvorbereitet entwickelt, prägen die Figuren ebenso wie die Serie insgesamt. Dass Staffel 1 insgesamt etwas stimmiger erschien, mag daran liegen, dass die auf den Strand und den Dschungel beschränkte Örtlichkeit fantastisch miteinander harmonierte. Auch war der Pfad der Überlebenden, die großteils zusammen geblieben waren, einfacher nachvollziehbar. Dadurch, dass sie hier aufgeteilt werden und die Insel mehrmals durchqueren, stellt sich stellenweise das Gefühl ein, die Serie wäre auf der Suche nach einem Ziel. Nicht zuletzt in Anbetracht der letzten 15 Minuten wird aber deutlich, dass Lost nicht nur noch eine ganze Weile brauchen wird, dort anzukommen, sondern dass es auch nicht einfacher wird, für alles eine greifbare Erklärung zu liefern. Als Mystery-Serie steht dies der ersten Staffel grundsätzlich in nichts nach – außer der Tatsache, dass diese hier danach kommt und schon deshalb nicht in dem Maße neuartig erscheinen kann.