Kulissen der Macht [2022]

Wertung: 5.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 26. Mai 2024
Genre: Dokumentation

Originaltitel: The Corridors of Power
Laufzeit: 135 min.
Produktionsland: USA / Israel / Deutschland / Frankreich / Großbritannien / Belgien / Norwegen / Niederlande
Produktionsjahr: 2022
FSK-Freigabe: ab 16 Jahren

Regie: Dror Moreh
Musik: Freya Arde
Personen: Madeleine Albright, Colin Powell, Hillary Clinton, Samantha Power, James Baker, Antony Blinken, Leon Panetta, John Shattuck, Nancy Soderberg, Jeff Burrell, Harvey Friedman, Dulcie Smart


Hintergrund:

„Nie wieder.“ Der Appell und die Überzeugung gleichermaßen, dass sich ein Verbrechen wie der Holocaust nicht wiederholen dürfe, führte unter anderem zur Gründung der Vereinten Nationen (UN) am 24. Oktober 1945. Nur drei Jahre später wurde die UN-Völkermordkonvention von der Generalversammlung angenommen und trat im Januar des Jahres 1951 in Kraft. Doch trotz der internationalen Übereinkunft, dass es keinen Völkermord mehr geben solle, haben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehrere solch unaussprechlicher Verbrechen die Weltgemeinschaft erschüttert. Gleichzeitig hadern politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger damit, diese Verbrechen als solche zu benennen, oder sich auf ein rechtzeitiges Einschreiten zu einigen, ehe sie überhaupt geschehen. Filmemacher Dror Moreh lässt einflussreiche Politikerinnen und Politiker bzw. leitende Beamtinnen und Beamte zu Wort kommen, wie sie in den vergangenen 25 Jahren internationale Krisen und Völkermorde erlebt haben. Es ist ein Blick in die Hinterzimmer der Macht – und darauf, was das Wissen um die Konsequenzen ihrer Handlungen mit der Verantwortlichen angerichtet hat …


Kritik:
Nie wieder sollen sich Verbrechen wie diejenigen, die unter anderem im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau begangen wurden, wiederholen. Blicken Historikerinnen auf jene Zeit zurück, stellen sie fest, dass den Staatsführern der Alliierten lange vor dem Einschreiten der Vereinigten Staaten bereits bekannt war, welcher Horror sich in den Vernichtungslagern ereignete. Und doch wurden bei den Flächenbombardements der Streitkräfte keine Bahnstrecken ins Visier genommen. Weshalb dem so ist, darüber kann man nur mutmaßen. Aber auch, wenn sich nach der Übereinkunft der internationalen Staatengemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg nie wieder ein Völkermord ereignen sollte, es hat sie erneut gegeben. Mehrmals. Trotz des Wissens um Gräueltaten, die sich ereigneten, schritten die führenden Nationen oder die UN gar nicht, oder mit einer solchen Verzögerung ein, dass sich das Leid der Betroffenen ins Unermessliche steigerte. Wie kann das sein? Dieser Frage nähert sich Filmemacher Dror Moreh, indem er einflussreiche Politikerinnen, Diplomaten und Beamte sowie Beraterinnen interviewt, die in der US-Regierung oder dem Außenministerium internationale Krisen und Völkermorde wie diejenigen im ehemaligen Jugoslawien, in Ruanda, dem Kosovo, Irak, Libyen oder Syrien miterlebt haben.

Die Liste ist so lang wie die Art der Verbrechen unbegreiflich. Von der schieren Anzahl ganz zu schweigen. Kulissen der Macht stellt diese Konflikte durch Einblicke vor, die weit über das hinausgehen, was man in den Abendnachrichten vermittelt bekommt. Es sind Aufnahmen, die dieser Kritiker nicht nur in der Menge noch nicht gesehen hat und die entweder die Opfer von Hinrichtungen, ethnischen Säuberungen oder schlimmstmöglicher Gewalt zeigen, oder gar die Taten selbst, wie sie von Journalistinnen, Beobachtern oder den Tätern gefilmt wurden. Diese Bilder machen fassungslos. Sieht man diese Einblicke in eine wahre Hölle auf Erden, die an verschiedenen Schauplätzen der Welt von Menschenhand erschaffen wurde, dann kann man sich der Frage nur anschließen, die hier in Pressekonferenzen an den Präsidenten der Vereinigten Staaten herangetragen wird: Wie lange kann die Welt dabei noch zusehen?

Schildert Kulissen der Macht die außenpolitischen Entscheidungen der USA in Bosnien-Herzegovina, Ruanda oder Syrien, dann erscheint dies jeweils für sich genommen mitunter unverständlich. Doch auf Grund der Tatsache, dass die Dokumentation die Außenpolitik wie auch die vorgenannten Krisenherde dieser Welt über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten chronologisch darstellt, ergeben sich Zusammenhänge und Entwicklungen, die in der Betrachtung eines einzelnen Konflikts untergehen würden. Insoweit ist Morehs Blick auf die getroffenen Entscheidungen erhellender, als Berichterstattungen einzelner Konfliktherde. Der Filmemacher lässt die interviewten Personen frei sprechen, gibt ihnen Raum, getroffene Entscheidungen zu rekapitulieren, die Momente der Entscheidung Revue passieren zu lassen. Die Erkenntnisse für das Publikum ergeben sich dabei nicht nur in Bezug auf den Entscheidungsprozess an sich, sondern auch in Hinblick auf die verantwortlichen Personen und wie sich bestimmte außenpolitische Kursschwankungen ergeben haben.

Das ist erleuchtend und wichtig, tritt aber letztlich hinter den zwei zentralen Eindrücken zurück, die man in Kulissen der Macht gewinnt. Zum einen der Eindruck dessen, was das Verbrechen des Völkermordes mit den betroffenen Menschen anrichtet. Die Bilder aus diesen Gebieten, Zeugnisse von unaussprechlichen Grausamkeiten, verfolgen einen weit über den Abspann hinaus. Allein die Vorstellung, wie das Erleben dieser unmenschlichen Verbrechen oder der Massenvertreibungen die Hinterbliebenen und die Opfer prägen muss, geht über das Fassbare hinaus. Zusätzlich noch die Blicke der Beteiligten Politikerinnen, Diplomaten und Entscheidungsbefugten zu sehen, wenn sie von ihren Erlebnissen in diesem Zusammenhang berichten, lässt einem einen Schauer über den Rücken laufen. Es ist mit Händen zu greifen, dass sie Dinge gesehen haben, die sie bis heute verfolgen und dass ihre Entscheidungen oder auch die Untätigkeit der Regierung, für die sie gearbeitet haben, sie schwer belasten. Trotz aller berechtigter Kritik am Verhalten von Entscheidungspersonen, es muss einem Respekt abringen, dass es Menschen gibt, die freiwillig Positionen einnehmen, in denen sie solchen Gewissenskonflikten ausgesetzt werden.

„Nie wieder“ sei zwar eine moralische Forderung, aber keine Verpflichtung, heißt es in Dror Morehs Dokumentation. Die Auswirkungen dieser Worte zu verarbeiten, fällt schwerer, als es auf den ersten Blick scheint, angesichts der zutiefst erschütternden Aufnahmen und Einblicke, die man hier gezeigt bekommt. Es dauerte nur ein halbes Jahrhundert, ehe die Welt nach dem Holocaust wieder Einrichtungen wie Konzentrationslager hervorbrachte. Der Dokumentarfilm klagt diejenigen, die im Regierungsapparat vertreten waren, als dies bekannt wurde, nicht an. Weder die Referatsleiterin im Außenministerium, noch Botschaftsangehörige, Nationale Sicherheitsberater oder Stabschefs. Dass niemand einschritt (oder heute einschreitet) angesichts schlimmstmöglicher Verbrechen, macht fassungslos und es wird einem gleichermaßen heiß und kalt, wie einem die Bilder dieser Verbrechen die Tränen in die Augen treiben. Ob die verstörende Darstellung in dieser Form notwendig ist, sei dahingestellt, es kann einen in jedem Fall nicht unbeteiligt lassen. So auch diejenigen nicht, die idealistisch und empathisch den Staatsdienst suchen, um etwas zum Guten zu bewegen. Es handelt sich bei diesen Menschen nicht um unterkühlte Strategen, die sicherheitspolitische Interessen über die Menschlichkeit stellen. Doch so hoch die Ziele, mit denen die Verantwortlichen in die Politik gegangen sind, internationale Realitäten stehen oftmals scheinbar offenkundigen Entscheidungen im Weg. Kann man diesen einen Konflikt mit einem Einschreiten lösen? Gilt das auch für diejenigen Länder, die außerdem davon betroffen oder in einer ähnlichen Notsituation sind? Was ist man bereit zu tun und wie lange kann man das durchhalten?


Fazit:
Die Einblicke in den Lagebesprechungsraum, in dem die handelnden und beratenden Akteure herausgestellt werden, sind eindrucksvoll in Szene gesetzt. Kulissen der Macht beschäftigt sich in der ersten Hälfte vorrangig mit den Konflikten und den Grausamkeiten, die verübt wurden. In der zweiten stehen die Entscheidungspersonen im Zentrum und wie die Entscheidungen getroffen wurden. Das ist nicht frei von Kritik, aber nicht vorwurfsvoll. Vor allem ist es wichtig für den demokratischen Prozess, rüttelt wach und gerät mit der Darstellung der Gräueltaten auf eine unbeschreibliche Weise erschreckend. Sieht man dann noch den Horror in den Augen der politisch Verantwortlichen, die Enttäuschung und die sie heimsuchende Reue in dem Wissen, was geschehen ist, und was sie nicht verhindert haben, dann gewinnt man vor ihnen durchaus Respekt. Die unerwartet ehrlichen Selbstanalysen der Verantwortlichen überraschen und beruhigen in gewisser Weise, doch die erschütternden Einblicke wiegt das kaum auf.
So kann man die Dokumentation nur einem nervenstarken Publikum empfehlen und selbst das wird in Anbetracht der Bilder mitunter über seine Grenzen hinausgeführt.