Für Sama [2019]

Wertung: 6 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 25. Januar 2020
Genre: Dokumentation

Originaltitel: For Sama
Laufzeit: 100 min.
Produktionsland: Großbritannien / Syrien
Produktionsjahr: 2019
FSK-Freigabe: noch nicht bekannt

Regie: Waad Al-Kateab, Edward Watts
Musik: Nainita Desai
Personen: Waad Al-Kateab, Hamza Al-Khateab, Sama Al-Khateab


Hintergrund:

Einst die größte Stadt Syriens, wurde Aleppo von den Protesten gegen den Machthaber Bashar al-Assad, die in den Wehen des Arabischen Frühlings 2011 aufgekommen waren, vergleichsweise spät ergriffen. Erst 2012 formierte sich dort Widerstand, der in Bombardements durch das Militär sowie Häuserkämpfen zwischen Rebellen und der Armee mündete. Vier Jahre dauerte die kriegerische Pattsituation, ehe von Juli bis Dezember 2016 die syrischen Truppen unterstützt durch russische Luftangriffe eine Offensive gegen das von Rebellen besetzte Ost-Aleppo unternahmen. Zu Beginn eine 21 Jahre junge Studentin, begleitet die zivile Journalistin Waad Al-Kateab das Geschehen und hält die Entwicklung in Ost-Aleppo in einem Augenzeugenbericht fest, der sich von 2012 bis zum Ende der Belagerung erstreckt. Obwohl er ihre und die Geschichte ihrer jungen Familie beschreibt, dokumentiert er gleichermaßen die Schicksale unzähliger Opfer jenes Konflikts, der ungeachtet der Situation in Aleppo, in Syrien – Stand heute – noch nicht zu Ende ist.


Kritik:
Der Name „Sama“ bedeutet „Himmel“. Die Journalistin Waad Al-Kateab hat ihn für Ihre Tochter gewählt, die im Jahr 2016 in Ost-Aleppo auf die Welt kam. Die Bedeutung, wenn auch nicht gleichbedeutend mit dem spirituellen Ort, könnte kaum gegensätzlicher sein zu der Hölle, in der Sama das Licht der Welt erblickt hat, inmitten des syrischen Bürgerkriegs, einem der tödlichsten Konflikte des 21 Jahrhunderts. Es ist ein Krieg, in den die allermeisten von uns – und hierbei nehme ich mich nicht aus –, wenn überhaupt, dann aus Nachrichten, Zeitungsartikeln oder Fernsehreportagen Einblick erhalten haben. Zeitlich stark begrenzt und durch die Sicherheit schaffende Distanz eines Bildschirms oder eines Blatt Papiers. Sieht man die Trümmerfelder, erhascht man einen Einblick in vom Schutt verstaubte Gesichter, dann ist das schockierend, aber trotz der Opferzahlen, die immer wieder genannt werden und zwischen 380.000 und 580.000 liegen sollen, anonym. Mit ihrer Dokumentation Für Sama, aus dem Herzen jener syrischen Stadt, reißt Al-Kateab diese Anonymität ein und zeigt Bilder, wie sie eben nicht in Zeitungen und Nachrichten-Einspielern zu sehen sind. Bilder der Schwerstverletzten, Kinderleichen und Gräuel, die aus erster Hand, durch die Stimme derjenigen Person erzählt, die sie selbst erlebt hat, eine andere, unmittelbare Wirkung entfalten, als wenn ein Reporter bzw. eine Reporterin es tun würde. Vor allem jedoch, gibt sie diesen Gesichtern, den Opfern und denen, die sich für die Freiheit eingesetzt haben, einen Namen. Das allein macht es kaum möglich, weiterzublättern, den nächsten Einspieler abzuwarten und das Gesehene als Teil des alltäglichen Hintergrundrauschens abzuhaken. Doch so paradox es klingt, es macht es gleichermaßen schwer, den vielleicht wichtigsten Dokumentarfilm des vergangenen Jahres zu empfehlen.

Waad Al-Kateab widmet diesen Film ihrer Tochter, in der Hoffnung, sie möge irgendwann verstehen, weswegen ihre Eltern sich dagegen entscheiden hatten, das bürgerkriegsgeplagte Land zu verlassen. Weshalb sie es für wichtiger erachteten, in der zerstörten Stadt und unter ständigem Beschuss von Bomben und Kugeln zu bleiben, um denjenigen, die nicht fliehen konnten oder wollten, zu helfen. Zwar beschreibt Für Sama im Kern die Geschichte von Waad und ihrem Mann Hamza, der als einer von etwas mehr als 30 Ärzten in Ost-Aleppo geblieben war, doch ist ihr Porträt mehr als das. Es ist ein Nachruf an all diejenigen, deren Leben sie im Laufe der dokumentierten Zeit nur streift. Freunde und Kollegen, die mit ihrem Mann in Ost-Aleppo mühevoll ein Krankenhaus aufgebaut haben, aber nach und nach bei Angriffen ums Leben kamen. Es ist aber auch ein Gedenken an die anderen Opfer, deren Namen in den seltensten Fällen genannt wird, die in eben diesem Krankenhaus schwerverletzt auf Baren liegen. Sei es auf Betten, im Gang oder auf dem blutverschmierten Boden, weil zur Zeit der Belagerung kein anderes Hospital den Bombenhagel überstanden hat und 300 Patienten pro Tag die wenigen Ärzte bis weit jenseits ihrer Grenzen brachten. „Krankenhäuser werden beschossen, um die Menschen zu demoralisieren.“

Für Sama beginnt in einem Krankenhaus, in dem sich das kleine Mädchen, noch kein Jahr alt, mit ihren Eltern befindet, als Bomben rings herum einschlagen. Al-Kateab erzählt die Dokumentation nicht chronologisch, springt immer wieder in die Zeit der ein halbes Jahr dauernden Belagerung des östlichen Teils der Stadt. Gleichzeitig schildert sie, wie sich die Protestbewegung gegen das Regime anfangs entwickelte, wie sie die Wendepunkte des Konflikts selbst wahrnahm – und wie ihr Leben vor der Zuspitzung des Bürgerkriegs ausgesehen hatte. Dabei beschäftigt sie sich wenig mit den politischen Hintergründen und den verschiedensten Fraktionen, die alle mehr oder weniger eigene Interessen in Syrien verfolgen. Ihre Grenze verläuft vielmehr zwischen dem machthabenden Regime und seinen Unterstützern sowie denen, die sich eben hiergegen auflehnen. Es ist ein ungefilterter Blick aus Sicht der Opfer dieses Krieges, anstatt aus der geopolitischen Perspektive, die in Nachrichtensendungen meist vorgestellt wird. Umso unvermittelter treffen einen die Eindrücke dieser von den Auseinandersetzungen betroffenen Personen.

Ungeachtet der Grausamkeiten, die Waad Al-Kateab hier wiedergibt, findet sie auch Momente des Glücks, wie ihre Hochzeit, bei der die Musik lauter war als die Bomben draußen. Oder wenn Eltern versuchen, ihren Kindern mit Spielen so etwas wie Normalität in diesem Alltag vorzuleben – und sie gleichzeitig gegen die Gefahren zu sensibilisieren. Und doch sind diese Leuchtfeuer der Menschlichkeit nur Funken angesichts dessen, was dieser Krieg mit sich bringt. Sieht man Leichen, die in Massengräbern beerdigt werden, ist das eine ebenso kaum zu begreifende Normalität wie kleine Kinder, die ihre noch jüngeren Geschwister müssen sterben sehen. Oder Eltern, die ihre Kinder zu Grabe tragen. Das Wissen, dass all das keine Einzelschicksale sind, macht es nur umso schwieriger, das Gezeigte zu verarbeiten. Doch gerade das zeichnet Für Sama aus, dass es kein Blick von außen auf diesen Konflikt ist, sondern ein Blick heraus. Würde man diese Dokumentation als Pflichtprogramm für alle Regierungsvertretungen auf der Welt einführen, vielleicht würde sich dann etwas ändern. Vielleicht würde man dann verstehen, dass es nicht die eingefärbten Gebiete auf der Landkarte sind, die diese Kriege definieren. Und auch nicht die Trümmerfelder und zerstörten Gebäude. Es sind die Menschen, die darin gelebt haben – oder heute noch leben. So etwas kann, so etwas darf uns nicht teilnahmslos lassen.


Fazit:
Wie kann man freiwillig an einem Ort bleiben, der um einen herum immer mehr zerstört wird? Wie kann man sich dem ureigensten Instinkt verwehren, zu fliehen und in Hoffnung auf ein besseres Leben und ein Zukunft woanders einen Neuanfang zu wagen? Es ist eine Entscheidung, die die Dokumentarfilmerin hier selbst zu treffen hatte. Nicht nur für sich, sondern auch für ihre Tochter. Die Begründung, die sie liefert, wird in dem Kampf, den diese Menschen Tag für Tag für ein normales, selbstbestimmtes Leben geführt haben, greifbar. In den Hoffnung stiftenden Momenten, wenn es scheint, als würden die Rebellen gewinnen. Wenn Freundschaft und Kameradschaft wie Rettungsbojen in der Dunkelheit erscheinen. Dem gegenüber stehen die vielen Opfer, die nicht namenlos bleiben. Oder Kinder, die zur Ablenkung mit ihren Eltern einen ausgebombten Bus anmalen, als wäre es das Normalste der Welt. Es gibt hier einen Moment, der das Publikum lange nicht loslassen wird, in dem die Ärzte bei einer bei einem Bombenangriff verletzten, hochschwangeren Frau um ihr Leben und per Notkaiserschnitt um das des Babys kämpfen – in Großaufnahme, so dass man sich dem nicht entziehen kann. Und dass man sich die Frage stellen muss, welcher Welt sie sich in dem Bürgerkriegsland gegenübersehen, wenn sie überleben. Und ob es nicht vielleicht besser wäre ….
Für Sama sind die erschütterndsten und aufwühlendsten eineinhalb Stunden, die ich seit langer Zeit im Kino verbracht habe. Die Stimme von Waad Al-Kateab zu diesem Krieg zu hören, ist vielleicht wichtiger, als sich der politischen Verstrickungen darum bewusst zu werden. Dieser Augenzeugenbericht aus Ost-Aleppo, der das Schicksal der Menschen dort in den Vordergrund stellt, ist das eindringlichste Plädoyer, alle Beteiligten zu einem Ende der Kämpfe aufzufordern. Sich selbst dem zu stellen, ist wichtig und dies vielleicht der bedeutendste Film hierzu, aber für das Publikum, das fernab dieser Kämpfe in einem behüteten Alttag seinem Leben nachgeht, eine Herausforderung.