Carlos - Der Schakal [2010]

Wertung: 4.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 20. Juli 2011
Genre: Drama / Thriller / Biografie

Originaltitel: Carlos
Laufzeit: 187 min.
Produktionsland: Frankreich / Deutschland
Produktionsjahr: 2010
FSK-Freigabe: ab 16 Jahren

Regie: Olivier Assayas
Musik: Wire
Darsteller: Édgar Ramírez, Alexander Scheer, Alejandro Arroyo, Fadi Abi Samra, Ahmad Kaabour, Talal El-Jordi, Juana Acosta, Nora von Waldstätten, Christoph Bach, Rodney El Haddad, Julia Hummer, Antoine Balabane, Rami Farah, Aljoscha Stadelmann, Zeid Hamdan


Kurzinhalt:
Ilich Ramírez Sánchez (Édgar Ramírez) schließt sich der unter anderem von Wadie Haddad (Ahmad Kaabour) geleiteten "Volksfront zur Befreiung Palästinas" an. Fortan bekannt als Carlos verübt er 1973 seinen ersten Terroranschlag. Doch statt den jüdischen Geschäftsmann Joseph Sieff zu ermorden, wird dieser nur schwer verletzt. Es folgen Bombenattentate. Carlos' Kontaktperson Michel Moukharbel (Fadi Abi Samra) wird 1975 verhaftet und verhört. Als Polizisten zusammen mit Moukharbel Carlos in Paris festnehmen wollen, erschießt er zwei Polizisten und den Kontaktmann. Beinahe über Nacht wird Carlos international berühmt.
Im Dezember 1975 leitet er einen Angriff auf das OPEC-Hauptquartier in Wien und entkommt bei einer spektakulären Flucht. Doch die Operation ist ein Fehlschlag und Carlos wird von Haddad aus der Organisation ausgeschlossen. Er gründet sein eigenes Unternehmen, an seiner Seite seine Frau Magdalena Kopp (Nora von Waldstätten) und der deutsche Terrorist Johannes Weinrich (Alexander Scheer). Unterstützt und beschützt von zahlreichen Nationen und Anführern weltweit, verbreitet Carlos weiter Angst und Schrecken. Doch mit dem Ende des Kalten Krieges, erschöpft sich auch seine Nützlichkeit ...


Kritik:
Um festzuhalten, was Carlos - Der Schakal ist, sollte man besser feststellen, was der Film nicht ist. Er ist beispielsweise keine wirkliche Biografie, denn wie man vorher informiert wird, gibt es viele Grauzonen in Carlos' Leben, über die nur Vermutungen angestellt werden können. Trotz eingehender Recherchen kann ein absoluter Wahrheitsgehalt also nicht sichergestellt werden, zumal der wirkliche Ilich Ramírez Sánchez, dem das Drehbuch vorab überreicht wurde, sogar gerichtlich gegen die Darstellung vorgehen wollte, da sie seiner Meinung nach nur Unwahrheiten verbreite (und eine Voreingenommenheit bei zukünftigen Gerichtsverhandlungen bedeuten könnte). Filmemacher Olivier Assayas drehte auch kein wirkliches Drama, da uns das Schicksal der verbrecherischen Hauptfiguren nicht so sehr interessiert. Und für einen Thriller packt das Gezeigte nicht genug, zumal den Ermittlungen um die Verhaftung von Carlos nur wenig Zeit beigemessen wird. Carlos ist im weitesten Sinne eine Charakterisierung der Person Sánchez im Einzelnen und des Terrorismus im Allgemeinen. Es gibt recht zu Beginn eine Szene, in der Carlos, nachdem er ein Attentat auf eine Bank verübte, aus der Dusche steigt und sich selbst nackt im Spiegel betrachtet. Besondere Aufmerksamkeit schenkt er dabei seinem Penis. Die Einstellung verdeutlicht gut, mit welcher Selbstverliebtheit er und Menschen wie er auftreten. Ob er trotz seiner politischen Parolen tatsächlich an etwas geglaubt hat, außer an sich selbst, ob er tatsächlich ein vermeintlich höheres Ziel verfolgte, als lediglich von sich selbst in der Presse zu lesen, lässt der Film offen. Vermutlich jedoch nicht, das legt er nahe. Was Carlos im Spiegel sieht, gefällt ihm, und genau so scheint es ihm zu ergehen, wenn er auf seine Werke und deren Auswirkungen, beziehungsweise die Berichterstattungen darüber, zurückblickt. Wenn er Anfang der 1990er Jahre von seinen ehemaligen Beschützern erfährt, dass er unerwünscht ist, scheint es für ihn beinahe ein größerer Schlag, dass er trotz des Kopfgeldes nicht einmal mehr interessant genug ist, gesucht zu werden.

Ursprünglich wollte Regisseur Assayas lediglich einen eineinhalb Stunden dauernden Film über die Verhaftung von Carlos drehen, doch nach intensiven Recherchen entschied er sich, den Film umfangreicher zu gestalten. Es entstand eine insgesamt fünfeinhalb Stunden umfassende Miniserie, die in dieser Form sowohl in manchen Kinos zu sehen war, wie auch im ausländischen Fernsehen. Eine kürzere, drei Stunden umfassende Version ist ebenfalls erhältlich – sie liegt dieser Besprechung zugrunde. Wer die Möglichkeit hat, sollte bevorzugt jedoch zur Langfassung greifen, denn was an der kürzeren Schnittfassung von Carlos auffällt sind zahlreiche Schnitte und Passagen, die offensichtlich fehlen. Nicht nur, dass sich die Figuren auf Ereignisse beziehen, die nicht gezeigt wurden, selbst innerhalb von Gesprächen ändern sich Zigarettenlängen, Getränke und mehr, als ob immer wieder Stellen herausgenommen wurden. Eine packende Dramaturgie sollte man auch in der kürzeren Fassung jedoch nicht erwarten; es wird vom Thema her nicht verlangt und würde womöglich die Person und die Taten unnötig stilisieren.

Stattdessen erleben wir, wie Ilich Ramírez Sánchez sein erstes Attentat verübt, das darüber hinaus nicht so erfolgreich verläuft, wie er es sich vorstellte. Auch die OPEC-Geiselnahme im Dezember 1975 in Wien, sein womöglich bekanntester Terrorakt, war im Grunde genommen ein Fehlschlag, denn die beiden Personen, die er eigentlich töten sollte (laut dem Film war die Geiselnahme nur ein Täuschungsmanöver hierfür), überlebten. Infolgedessen wurde er aus der "Volksfront zur Befreiung Palästinas" (PFLP) ausgeschlossen und gründete später seine eigene Organisation. Carlos selbst betont dabei immer wieder, dass es ihm um die Sache gehe und nicht um Geld oder Ruhm, doch in einem Gespräch zu Beginn spricht er eben von dem Ruhm, den er für die Sache damit erreichen könne. Es scheint, als war er ein Mann voller Widersprüche, dabei durchaus charismatisch, wenn auch berechnend und gewissenlos. An diesen Widersprüchen versucht sich Carlos und kleidet den Werdegang von Sánchez in aufwändige und überzeugende Bilder, welche die Zeit, in der all das geschah, glaubhaft zum Leben erweckt. Insbesondere für Zuschauer, die jene Ereignisse nicht miterlebt haben, ist das interessant und wichtig, verdeutlicht aber auch, wie diese Terrororganisationen weltweit von bestimmten Staaten geschützt und unterstützt wurden, um verschiedene Gesinnungen voran zu bringen. Insofern waren sie, selbst wenn sie von ihren Idealen überzeugt gewesen waren, nur ein Spielball einer globaleren Macht, die sie benutzte.

Was Olivier Assayas' Film fehlt ist eine ausdrückliche Stellungnahme, ob er denn wie Carlos und Terrororganisationen wie die PFLP eine mit Waffengewalt forcierte Gründung eines Palästinenserstaates befürwortet, oder nicht. Er zeigt die Figur Carlos und auch die fadenscheinige Begründung für sein Handeln in der Öffentlichkeit, doch eine klare Position der dahinterliegenden Themen gibt es nicht. Aufmerksame Zuschauer können dies zwar zwischen den Zeilen herauslesen, doch darf man sich angesichts der Menschenleben, die hierfür in die Schusslinie gerückt werden, eines deutlich dargebrachten Standpunkts nicht entziehen.


Fazit:
Die biografisch anmutende Produktion erzählt die aktiven Jahre von Carlos, einem der meist gesuchten Terroristen der 1970er und 80er Jahre, mit einer Authentizität nach, dank derer jene Zeit glaubhaft zum Leben erweckt wird. Lediglich der fehlende Schnee bei der OPEC-Geiselnahme in Wien fällt hier negativ auf. Hauptdarsteller Édgar Ramírez verkörpert die 20 Jahre umspannende Zeit nicht zuletzt dank seiner physischen Veränderungen überzeugend und lässt auch erahnen, was seine Gefolgsleute und seine Partnerinnen an Carlos so anziehend fanden.
Gleichzeitig entmystifiziert Carlos - Der Schakal den Furcht einflößenden Terroristen als selbstverliebten und selbstüberschätzenden Mann, der vermutlich an seine Ziele selbst nicht glaubte. Das ist aufwändig gemacht, exzellent gespielt und insbesondere für diejenigen ein merkenswertes Zeitzeugnis, die dies nicht erlebt haben. Zumal Carlos hier stellvertretend für den Terrorismus im Allgemeinen zu sehen ist. Doch ist es auch lang und so anspruchsvoll wie schleppend, bietet die Chronologisierung doch keine wirkliche Dramaturgie. Tragisch ist jedoch, dass Carlos nur berichtet und zu subtil Stellung bezieht. Dies darf bei jenem Thema nicht der Fall sein.
Wer die Möglichkeit hat, sollte sich die fünfeinhalb Stunden umfassende Miniserie ansehen.