Antlers [2021]

Wertung: 4.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 19. Oktober 2021
Genre: Horror / Fantasy / Drama

Originaltitel: Antlers
Laufzeit: 99 min.
Produktionsland: USA / Mexiko / Kanada
Produktionsjahr: 2019
FSK-Freigabe: ab 16 Jahren

Regie: Scott Cooper
Musik: Javier Navarrete
Besetzung: Keri Russell, Jesse Plemons, Jeremy T. Thomas, Graham Greene, Scott Haze, Rory Cochrane, Amy Madigan, Cody Davis, Sawyer Jones, Katelyn Peterson, Jake T. Roberts


Kurzinhalt:

In der Abgeschiedenheit Oregons unterrichtet Julia Meadows (Keri Russell) seit Kurzem in einer Mittelschule. Dabei wird sie auf ihren Schüler Lucas (Jeremy T. Thomas) aufmerksam, dessen Verhalten, Erscheinung und Schularbeit für Julia keinen Zweifel lassen, dass der Junge misshandelt wird. Aber sowohl der Rektorin als auch Julias Bruder Paul (Jesse Plemons), seines Zeichens Sheriff in der kleinen Stadt, sind die Hände gebunden. Als Julia versucht, Lucas’ Vater Frank (Scott Haze) zu erreichen, hört sie in dem abgelegenen Haus seltsame Geräusche. Gleichzeitig wird Paul mit immer neuen Leichen konfrontiert, die schrecklich zugerichtet wurden. Es drängt sich zunehmend der Verdacht auf, dass Lucas in seinem Haus ein Monster versteckt …


Kritik:
Lange Zeit erscheint Scott Coopers Antlers, als sei der Film ein Charakterdrama, verpackt in eine Gesellschaftsstudie, selbst wenn viele Momente unheimlich sind. Es dauert lange, ehe der Filmemacher sein Monster entfesselt, und wenn er es tut, bricht ein weiterer Horror über die Figuren herein. Doch so optisch umwerfend und atmosphärisch dicht dies dann inszeniert ist, es mangelt dem Drehbuch am Willen, die durchaus interessante Mythologie tatsächlich mit Leben zu füllen.

Dabei hat es zu Beginn durchaus noch den Anschein, als wäre der Fantasy-Horror genau darum bemüht. Eine Texttafel informiert über einen bösen Geist, der durch die Ausbeutung der Erde erweckt wurde und sich von den Schwachen und Verdorbenen ernährt. Es ist eine Kombination, die Cooper in wenigen Einstellungen einfängt, wenn er eine stillgelegte Kohlemine zeigt, mit der die Ressourcen der Welt geplündert wurden, und in der zwei Männer nun ein Drogenlabor betreiben. Einer der Männer hat seinen kleinen Sohn mitgebracht, der jedoch draußen im Auto auf ihn warten soll. Ein paar Wochen später setzt die eigentliche Geschichte an, die gleichermaßen aus der Sicht von Lehrerin Julia erzählt ist, wie aus der eines ihrer Schüler, dem abgemagerten Lucas. Dass an ihm etwas sonderbar ist, verheimlicht Antlers nicht, im Gegenteil. Nach den täglichen Hänseleien durch seine Mitschüler findet der Junge in der Nähe der Mine einen Dachs, den er erschlägt, um ihn in seinem Haus an „etwas“ zu verfüttern. Währenddessen vermutet Julia, dass Lucas misshandelt wird und will der Sache nachgehen.

Die Situation konfrontiert die mit ihrem Bruder Paul, dem Sheriff des im US-Bundesstaat Oregon abgelegenen Ortes, zurückgezogen lebende Frau mit ihrer eigenen traumatischen Kindheit, die der Film in wenigen Rückblicken, in Momenten, in denen man nur den Blick eines verängstigten, sich versteckenden Mädchens erhascht, lediglich andeutet. Dies macht die Schrecken, die sie erleben musste, für das Publikum nur schlimmer und es zehrt merklich an ihr, wenn sie den in schmutziger, zerrissener Kleidung im Unterricht sitzenden, von Narben und Verletzungen gezeichneten Lucas im Unterricht sieht. Als sie Lucas’ Zuhause aufsucht, wo sein Vater Frank mit Lucas’ jüngerem Bruder Aiden leben soll, hört sie beängstigende Geräusche und tut das einzig Richtige – sie geht. Überhaupt unterscheiden sich die Figuren in Antlers von denjenigen vieler anderer Horrorfilme, indem sie die richtigen Verknüpfungen herstellen und die richtigen Entscheidungen treffen. Zumindest lange Zeit.

Doch häufen sich in dem kleinen Ort schrecklich entstellte Leichen und für Paul und Julia steht bald fest, dass Lucas eine Kreatur in seinem Haus versteckt. Während sie sich die Frage stellen, was das ist, fragt sich das Publikum vor allem, wie es überhaupt zu der Situation kam. Wie kommt ein schmächtiger und offenbar allein lebender Junge dazu, ein Monster zu verstecken und zu versorgen? Die Antwort darauf liefert Filmemacher Cooper in einem Rückblick, der geballt all dies beantwortet, anstatt die Hintergründe auf bestimmte Momente zu verteilen. Während hier die wichtigen Informationen vorgeführt werden, entscheidet sich der Filmemacher bei einem anderen Aspekt, seiner Zuschauerschaft die Antworten lediglich zu erzählen. Auf der Suche, was diese Menschen getötet haben könnte, wenden sich Paul und Julia an den vorigen Sheriff Warren Stokes, charismatisch wie je verkörpert von Graham Greene. Er erzählt ihnen die Legende eines bösen Geistes, des „Wendigo“, und liefert alle Informationen in einem langen Dialog, bis hin dazu, wie dieser besiegt werden kann.

Die Mythologie um diese Kreatur klingt interessant, die hier als Anthropomorph mit einem großen, tödlichen Geweih ausgestattet ist, und auch die Verwandlung ist erschreckend. Nur ist dies die vielleicht einfallsloseste Art, die Legende vorzustellen. Gerade, weil er danach nicht um neue Aspekte ergänzt wird, ist es umso enttäuschender, wenn der gesamte Mythos auf einmal vorgetragen wird, anstatt ihn langsam zu erforschen. Dies macht Antlers zumindest für Genrefans durch eine wenig zimperliche Darstellung der Schrecken wieder wett, die dank einer erstklassigen Trickarbeit in ihren Bann zieht.
Das wahre Highlight ist allerdings die Inszenierung insgesamt, die mit vielen natürlichen Lichtquellen arbeitet, im Gegenlicht Perspektiven findet, die die Figuren in ihre eigenen Schatten hüllen – ein passendes Sinnbild für diese traumatisierten Charaktere. Die raue Schönheit der Landschaft steht einer von Menschen geschaffenen Hoffnungslosigkeit gegenüber, die sich in der dahinbröckelnden Industrie oder der Zerstörung der Natur widerspiegelt. Regisseur Scott Cooper findet hier viele treffende Bilder, die er langsam komponiert, um einen größtmöglichen Effekt zu erzielen. Das macht es umso bedauerlicher, wenn die Story alledem nicht genügend Substanz liefert.


Fazit:
Die Darstellerleistungen von Keri Russell als Julia und Jeremy T. Thomas als der geradezu verstörend entrückte Lucas sind so beunruhigend wie einnehmend. Sie vermitteln in ihren Blicken eine Traumatisierung, die selbst wenn sie nicht ausgesprochen wird, stets spürbar ist. Auf den Figuren, denen sich das Drehbuch behutsam nähert, ruht der Film ebenso wie auf den fantastischen Bildern, die auf eine bedeutungsvolle Art und Weise choreografiert sind, ohne dass dies aufdringlich erscheint. Doch so erstklassig die Optik und so stimmungsvoll greifbar die vielen unheimlichen Momente hier sind, wie der beinahe allzeit präsente Regen oder der dichte Nebel in den Szenen, dies dauert spürbar lange und trotz der dichten Atmosphäre wird die viel versprechende Mythologie kaum erforscht. Auch hätte es Möglichkeiten gegeben, das Schicksal der gebrochenen Figuren stärker in der Kreatur widerzuspiegeln oder mit ihr zu verzahnen. Toll gespielt, ist es das letzte Drittel, das mit dem beinahe reibungslosen Ablauf und dem überaus sichtbaren Horror inhaltlich nicht ganz zum Rest passen mag. Eine wirkliche Katharsis der Figuren bleibt zudem leider aus. Nichtsdestotrotz ist Scott Coopers Antlers ein ebenso ausgezeichnet fotografierter wie exzellent ausgestatteter, Alpträume heraufbeschwörender Fantasyfilm, der von seinen starken Charakterisierungen lebt. Für Fans von atmosphärischem Creature-Horror ist das mehr als eine Empfehlung.