America [2022]

Wertung: 4.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 4. Februar 2024
Genre: Drama / Liebesfilm

Originaltitel: America
Laufzeit: 127 min.
Produktionsland: Israel / Deutschland / Tschechien
Produktionsjahr: 2021
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Ofir Raul Graizer
Musik: Dominique Charpentier
Besetzung: Michael Moshonov, Oshrat Ingedashet, Ofri Biterman, Moni Moshonov, Irit Sheleg, Evelyn Shafir, Ruba Blal Asfour, Lukas Henri Kropat, Or Butbul


Kurzinhalt:

Seine Arbeit als Schwimmtrainer empfindet der aus Israel in die USA eingewanderte Eli (Michael Moshonov) als überaus erfüllend und scheut gleichzeitig, über sich hinauszuwachsen. Ein Anruf aus Israel zieht ihm jedoch den Boden unter den Füßen weg: sein Vater, mit dem er seit Jahren kein Wort gewechselt hat, ist verstorben. Eli entschließt sich, in seine Geburtsheimat zu fahren, um den Nachlass zu regeln. Das Haus seines Vaters, das nun ihm zufällt, da niemand anderes aus der Familie mehr übrig ist, weckt in ihm Erinnerungen, die Eli nie verarbeitet hat. Er sucht seinen Freund aus Kindertagen auf, Yotam (Ofri Biterman), der inzwischen mit der Blumenhändlerin Iris (Oshrat Ingedashet) verlobt ist. Bei einem Ausflug verunglückt Yotam schwer und obwohl seine Eltern wie auch Iris Eli Vorwürfe machen, entwickelt sich im Lauf der Zeit ein Band zwischen Eli und Iris. Dabei verbindet sie nicht nur Yotam. Sie beide haben eine traumatische Kindheit erlebt. Doch die Unsicherheit um Yotams Genesung belastet sie ebenso, wie ihrer beider Gefühle, ihn zu hintergehen …


Kritik:
Ofir Raul Graizers America ist ein Film, der das Leben stärker widerspiegelt, als viele andere Dramen. Aus dem einfachen Grund, weil alle Figuren ihre Sorgen und Ängste in sich hineinfressen, anstatt sie vor dem Publikum in langen Dialogen auszubreiten. Das macht es schwerer, ihre Beweggründe zu verstehen, doch schwingt in ihren Blicken und ihrem Zögern eine Aussagekraft mit, die ihre unerfüllte Sehnsucht nur noch greifbarer macht. Für ein ruhiges Publikum ist dies eine Reise voll beeindruckender Momente, zwischen denen doch so Vieles unaufgelöst bleibt.

Sie beginnt in Chicago, wo Ilai Cross als Schwimmtrainer arbeitet. Seine Wohnung, in der er vor Arbeitsbeginn Sport macht, ist spartanisch eingerichtet. Dank seines Einfühlungsvermögens ist er nicht nur bei den Kindern, die er unterrichtet, beliebt, auch sein Vorgesetzter hat größere Pläne für Ilai. Es hat beinahe den Anschein, als würde er seine Blockade, an einem Wettkampf teilzunehmen, aufgeben, als ihn Anruf aus Israel erreicht. Dort geboren und aufgewachsen, änderte Ilai seinen Namen von Eli Greenberg, als er in die Vereinigten Staaten kam. Der Anwalt informiert ihn, dass sein Vater, zu dem er seit Jahren keinen Kontakt mehr hatte, verstorben ist. Eli ist der einzige Erbe des Hauses, in dem er aufwuchs. So kehrt er zur Regelung des Nachlasses nach Tel Aviv zurück und findet dort nicht nur ein Haus voller Erinnerungen vor, die ihn nie losgelassen haben. Er sucht auch seinen Jugendfreund Yotam auf, der inzwischen mit der Blumenhändlerin Iris verlobt ist.

Dass etwas Schlimmes in Elis Vergangenheit geschehen sein muss, erkennt man bereits an seinem Blick, wenn er vor seinem Elternhaus steht und förmlich um Fassung ringt. Von Michael Moshonov wird die Figur in einer intensiven Darbietung auf eine Art und Weise zum Leben erweckt, als würden Trauer und Dunkelheit gleichzeitig in ihm um die Oberhand kämpfen. Im Haus ist der Geist seines Vaters unübersehbar. Durch Auszeichnungen, die verraten, dass er ein Polizeihauptmann war, und Waffen an der Wand. Es ist ein kalter Ort, auch in der Farbgebung, so dass der Kontrast kaum größer sein könnte, wenn Eli Iris’ Blumenladen aufsucht. So in sich gekehrt Eli ist, so aufgeschlossen und offen ist Yotam, den er dort findet. Suchen sie gemeinsam eine abgelegene Badestelle am verborgenen Bach auf, hat es beinahe den Anschein, als würde sie mehr verbinden, als nur eine Freundschaft. Doch bevor sie sich aussprechen können, verunglückt Yotam am Ufer und schlägt mit dem Kopf auf. Eli trägt ihn zurück und muss hilflos mitansehen, wie Yotam im Koma liegend, im Krankenhaus behandelt wird. Dessen Eltern Moti und Orna machen ihn ebenso verantwortlich wie Iris, so dass Eli einmal mehr ganz allein ist.

Filmemacher Graizer unterteilt seine Geschichte in vier Kapitel, die jeweils eine andere Person ins Zentrum rücken. Wird im ersten Eli vorgestellt, steht im zweiten Iris im Mittelpunkt. Nach einem zeitlichen Sprung ist Eli vorerst in Israel geblieben und bewohnt das Haus seines Vaters, dessen Habseligkeiten er allesamt in einen Raum verbannt hat. Eher aus Schuldgefühl heraus bittet er Iris, ihm mit dem Garten hinter dem Haus zu helfen. Da sie, auch, weil sie regelmäßig stundenlang zu Yotam ins Krankenhaus fahren muss, der in seinem Wachkoma nicht ansprechbar ist, das Geld durchaus gebrauchen kann, willigt sie ein. Sie verbringen viel Zeit miteinander, verbunden durch einen unsagbaren Verlust, so dass es nicht überrascht, wenn eins zum anderen führt. Doch erzählt America keine klassische Dreiecksgeschichte. Vielmehr nähert sich das Drehbuch diesen Figuren, die alle ihre Erlebnisse der Vergangenheit nicht vergessen oder loslassen können. Immer dann, wenn sich die Story in eine Richtung entwickelt, man vermutet zu erahnen, wohin all das führen wird, ändert Ofir Raul Graizer die Richtung, ganz so, wie es im Leben oftmals geschieht.

Es dauert lange, ehe die Verbindungen zwischen Eli und Yotam vorgestellt werden, und noch länger, ehe aufgedeckt wird, was mit Eli geschehen und was aus ihm geworden ist, ehe er in die Vereinigten Staaten kam. America beobachtet diese Charaktere und lässt Spielraum für Interpretation. Sieht man Elis Blick, wenn er in einem Restaurant sieht, wie einem Jungen von seinem Vater Gewalt angedroht wird, dann kann man erahnen, dass ihm selbst so etwas widerfahren ist. Dennoch bleibt Vieles unausgesprochen, sowohl zwischen Eli, Iris und Yotam, wie auch in der Geschichte an sich. Hieraus zieht das Liebesdrama seine größte Stärke, eingefangen in fantastischen Bildern, in denen die Figuren im Zentrum mitunter durch Objekte an den Bildrändern förmlich eingerahmt werden. Damit und durch eine teilweise spürbar flache Tiefenschärfe werden die Charaktere auf eine Art und Weise herausgestellt, dass man kaum anders kann, als jede ihrer Regungen zu beobachten. Die Farbgestaltung ist ebenso beeindruckend wie die Einstellungen mitunter regelrecht poetisch.

Doch die handwerkliche Finesse kann nicht ganz aufwiegen, dass sich die Erzählung spürbar viel Zeit für ihre Figuren nimmt. Gerade dadurch, dass ihre Entwicklung regelmäßig in eine andere Richtung gelenkt wird, hat man selten das Gefühl, sie auf ihrer Reise tatsächlich begleiten zu können, immerhin ist nie wirklich deutlich, wohin diese überhaupt führen soll. So bleibt das Publikum doch mehr beobachtend, als erlebend. Das heißt nicht, dass das Gezeigte nicht faszinierend und mitunter berührend ist. Doch emotional packend ist America wenn, dann nur selten, so dass hier ein ruhiges Publikum am ehesten angesprochen wird, das bereit ist, sich auf eine solche Erzählweise einzulassen.


Fazit:
In geradezu alltäglichen, mitunter malerischen Bildern voller Ausdruckskraft stellt Filmemacher Ofir Raul Graizer Figuren vor, die am Ende alle jemanden verloren haben, den sie lieben. Glück ist flüchtig, es festzuhalten ein Impuls, der es mitunter nur noch schneller weichen lässt. Die Liebesgeschichte, die das Drehbuch schildert, wächst weniger aus einer Leidenschaft heraus, als einem gemeinsamen Schmerz auf mehreren Ebenen. Das ist von allen dreien im Zentrum stark gespielt und behutsam eingefangen. Was in den Charakteren vorgeht, muss sich das Publikum aus ihrem Verhalten erschließen, anstatt es in langen Dialogen erklärt zu bekommen. America erzählt, zugegebenermaßen ein wenig zu lang, eine tragische Geschichte, in der Emotionen beobachtet, anstatt ausgesprochen werden. Sie handelt von Verlust, Misshandlung, die ein Leben prägt, aber auch von Schuld, einen geliebten Menschen zu hintergehen. Es ist ein Film, auf den man sich einlassen können muss. Dann jedoch ist er eine Erfahrung, die ungemein zum Beobachten und zum Nachdenken anregt.