Sirât [2025]

Wertung: 4.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 27. Juni 2025
Genre: Drama

Originaltitel: Sirât
Laufzeit: 115 min.
Produktionsland: Frankreich / Spanien
Produktionsjahr: 2025
FSK-Freigabe: ab 16 Jahren

Regie: Oliver Laxe
Musik: Kangding Ray
Besetzung: Sergi López, Bruno Núñez Arjona, Richard Bellamy, Stefania Gadda, Joshua Liam Henderson, Tonin Janvier, Jade Oukid


Kurzinhalt:

Auch wenn Luis (Sergi López) zusammen mit seinem Sohn Esteban (Bruno Núñez Arjona) dessen Schwester Mar nicht auf dem Rave-Festival im Süden Marokkos finden kann, er kann und will die Hoffnung nicht aufgeben. Monate sind vergangen, seit er zuletzt von seiner Tochter gehört hat. Von einer Gruppe um Stef (Stefania Gadda), Bigui (Richard Bellamy), Jade (Jade Oukid), Tonin (Tonin Janvier) und Josh (Joshua Liam Henderson) erfährt Luis, dass in Kürze ein weiterer Rave mitten in der Wüste geplant ist. Doch bevor er mehr erfahren kann, wird das Festival vom Militär aufgelöst. Die internationalen Spannungen sind so stark angestiegen, dass alle Fremden das Land verlassen sollen. Als Stef und die anderen aus dem Autokorso ausbrechen und sich quer durch die Wüste zu dem anderen Musikfestival aufmachen, schließt sich Luis mit seinem Sohn an. Es ist eine gefährliche Fahrt, bei der Luis nicht nur zu verzweifeln droht, sondern nicht weiß, wie er diese Gruppe einschätzen soll, deren Lebensentwurf vollständig von seinem abweicht. Doch dann geschieht ein Unglück, das sie zwar zusammenschweißt, das aber nur die erste Prüfung darstellt …


Kritik:
Das preisgekrönte Drama Sirât erzählt auf eine surreale Weise eine Geschichte, die man als Allegorie für Vieles verstehen kann. Für den unbegreiflichen Schmerz des Verlustes, der jedes Leben prägt, oder die Reise, die wir alle gemeinsam unternehmen, bis jeder sie für sich zu Ende gehen muss. Mit einer eindringlichen, aber nicht unbedingt zugänglichen Klangkulisse und Bildern, die spätestens ab der Hälfte in Erinnerung bleiben, sprengt das Genrekonventionen und eignet sich nur für ein bestimmtes Publikum. Das aber wird länger über das Gesehene nachdenken, als man anfangs vermutet.

Die Geschichte beginnt bei einem Musik-Festival im Süden von Marokko. Der Rave zieht Menschen verschiedenster Nationen und sozialer Hintergründe an. Inmitten der Veranstaltung verteilen Luis und sein Sohn Esteban Flyer, mit denen sie nach Estebans Schwester Mar suchen. Vor fünf Monaten hatte Luis zuletzt Kontakt mit seiner Tochter und sie vermuten, Mar könne sich auf einem solchen Rave aufhalten. Doch die Suche verläuft ergebnislos. Von einer Gruppe um Stef und Jade erfährt Luis, dass in Kürze ein weiterer Rave stattfinden wird, mitten in der Wüste. Der Weg dorthin ist schwierig und mit Luis’ altem Auto kaum zu bewerkstelligen. Doch aufgeben kommt für ihn nicht in Frage, weshalb sich Luis mit seinem Sohn den Ravern, die mit zwei alten Wohnwagen fahren, anschließt. Es ist ein beschwerlicher Weg durch die Wüste, bei dem sich die so unterschiedlichen Personen langsam anzunähern beginnen. Bis sie eine Tragödie nach der anderen heimsucht und ihre Fahrt zu einer Reise ins Ungewisse wird.

Der Moment, in dem dies zum ersten Mal geschieht, kommt so unerwartet, dass man dem tatsächlich geschockt beiwohnt. Bis dahin besitzt Sirât zwar eine einnehmende Atmosphäre, aber die Geschichte scheint nirgendwo hinzuführen. Man beobachtet vielmehr, wie sich all dies merklich langsam entwickelt. Sie es, wenn Filmemacher Oliver Laxe zu Beginn in ausgedehnten Einstellungen den Aufbau der Musikanlage des Festivals zeigt, oder minutenlang, wie sich die Raver zu den rhythmisch wummernden Klängen der Musik bewegen. Sieht man hier aber genauer hin, entdeckt man differenziertere Beobachtungen. Beispielsweise, dass sich die Raver zwar gemeinsam, wie ein Kollektiv bewegen, aber darin doch alle isoliert sind. Ein jeder und eine jede folgt ihren eigenen Bewegungen, tanzt für sich allein. So wie jeder Mensch ein individuelles Leben führt, selbst wenn wir alle die gleiche Realität teilen. Luis weiß nicht, wie er seine Tochter finden soll und setzt darum auf die Hilfe dieser Gruppe, die ihm vollkommen fremd ist. Doch entgegen seiner Zweifel, lassen ihn diese Menschen nicht im Stich und teilen sogar ihre Vorräte während der beschwerlichen Fahrt durch die Wüste, wohingegen es Esteban ist, der seinen Vater anhält, es ihnen gleich zu tun.

Ob überhaupt etwas oder was genau vorgefallen ist, damit Mar den Kontakt mit ihrem Vater abbrach, bevor sie verschwand, wird nicht thematisiert. Doch bei all seiner Verzweiflung in Anbetracht der Unkenntnis von Mars Aufenthaltsort, kann man sehen, dass Luis sich um Esteban sorgt. Schon deshalb fällt es leicht, einen Zugang zu den Figuren zu finden, wie auch zu Stef, Jade, Bigui, Josh oder Tonin, auf die ein Großteil des Publikums auf Grund deren Erscheinungsbildes wohl kaum zugehen würde. Doch sie kümmern sich um einander, wie um Luis und Esteban. Letzterer scheint sich in der Gruppe sogar wohl zu fühlen, während die Sorgen steigen in Anbetracht von Berichten im Radio, dass die Weltordnung zusammengebrochen ist, was erklärt, weshalb der erste Rave vom Militär aufgelöst wurde. Es sind verschiedenste Ansätze, die Sirât vorstellt. Angefangen von der Suche nach der verlorenen Tochter, über das Zusammenprallen der unterschiedlichen Lebensauffassungen von Luis einerseits und der Gruppe, derer er sich anschließt, andererseits, bis hin zu einer apokalyptischen Vision, die hinsichtlich der Trostlosigkeit an die Mad Max-Filme erinnert. Weite Landschaften, ohne eine Menschenseele darin und doch mit der alles prägenden Aussichtslosigkeit und der existenziellen Bedrohung, abstrakt durch die Radioberichterstattung und konkret durch die zur Neige gehenden Vorräte.

Ruhig wie langsam erzählt Regisseur Laxe und erzeugt dabei eine Atmosphäre, die durchaus meditative Züge annimmt, wenn Ton und Bilder einen rhythmisch umschließen. Dabei mag man ihm vorwerfen, dass er das Gezeigte merklich in die Länge zieht und wer insbesondere in der ersten Hälfte auf der Suche nach einer klaren Erzählstruktur ist, wird sie hier kaum finden. Zu improvisiert erscheint die gesamte Situation, ähnlich der Gruppe der Raver, die hier eine Familie gefunden hat, die sie zuvor vermisste. Doch so interessant die Dynamik der Personen untereinander, ausgesprochen packend ist Sirât selten. Bis man mit diesen Figuren aus heiterem Himmel in eine schreckliche Situation geworfen wird, die den traumähnlichen Charakter der Erzählung in einen Alptraum verwandelt.

Der Titel steht für eine bildliche Brücke, die ins Paradies führt. Dünner als ein Haar und schärfer als ein Schwert, reicht sie über den Schlund der Hölle. Das Gefühl, über diese Brücke zu schreiten, wird hier greifbar und doch abstrakt genug auf die Leinwand gebracht. Das macht Sirât nicht leichter zugänglich, aber es erklärt, wie gut den Beteiligten gelungen ist, was sie sich angeschickt haben, zu erzählen.


Fazit:
So schwer greifbar die Stimmung in der ersten Stunde ist, so bedrohlich wird sie in der zweiten. Filmemacher Oliver Laxe vollzieht eine derartige Wendung, dass es einen vollkommen unerwartet trifft. Doch man muss sich darauf einlassen, dass alles deutlich länger dauert, als es augenscheinlich notwendig wäre. Zusammen mit der basslastigen Musik, die den Körper regelrecht durchdringt, erzeugen die Bilder eine tranceähnliche Atmosphäre, in der man sich durchaus verlieren kann. Eindringlich gespielt, ist dies eine Geschichte über eine Welt, die ins Ungewisse steuert, geprägt von Verlust und Trauer. Das klingt nicht nur hoffnungslos, das ist es auch. Doch für ein spezielles Publikum wird Sirât seine melancholisch-hypnotisierende Wirkung entfalten. Es wird eine Erzählung finden, die nachwirkt und vielleicht auch einen Appell beinhaltet. Sehenswert.