Spurwechsel [2002]

Wertung: 4.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 23. November 2002
Genre: Drama / Thriller

Originaltitel: Changing Lanes
Laufzeit: 99 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 2002
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Roger Michell
Musik: David Arnold
Darsteller: Ben Affleck, Samuel L. Jackson, Kim Staunton, Toni Collette, Sydney Pollack, Amanda Peet


Kurzinhalt:
Egal ob morgens oder abends, der Verkehr in einer Großstadt wie New York ist für jeden Autofahrer zu jeder Zeit ein Alptraum – und an diesem Karfreitag ganz besonders:
Der junge, erfolgreiche Anwalt Gavin Banek (Ben Affleck) ist auf dem Weg zum Gericht, wo er eine Erbeinsetzungserklärung eines verstorbenen Mandanten vorlegen muss, von der auch sein Schwiegervater Stephen Delano (Sydney Pollack), der Chef der Kanzlei, profitieren würde.
Der trockene Alkoholiker Doyle Gipson (Samuel L. Jackson) muss ebenfalls zum Gericht, um den Richter davon zu überzeugen, dass er das Sorgerecht für seine beiden Söhne weiterhin behalten darf. Dafür hat er ein Darlehen aufgenommen und ein altes Haus gekauft, damit seine von ihm getrennt lebende Frau Valerie (Kim Staunton) nicht gezwungen ist wegzuziehen.
Ansich gibt es keinen Grund, wieso sich diese beiden Menschen, Gavin und Doyle, treffen sollten; Aber das Schicksal will es, dass sie mitten auf dem Freeway einen kleinen Unfall haben. Gavin läuft die Zeit davon und er lässt Doyle nach einem kurzen Wortwechsel allein mit einem geplatztem Reifen stehen und fährt weiter.
Doch die Akte mit der Erbeinsetzungserklärung hat er am Unfallort liegen lassen. Doyle findet sie, kommt aber zu spät zu seinem Gerichtstermin: Der Richter hat seiner Frau mittlerweile das Sorgerecht zugesprochen. Nun hat Doyle die Akte, dafür keine Kinder, und Gavin ein großes Problem. Bis zum Abend muss er die Akte bei Gericht vorlegen, ansonsten droht ihm eine verhängnisvolle Klage.
Zwischen den beiden Männern entbrennt ein unerbittlicher Kampf um das persönliche Recht, bei dem sich das Karussell immer schneller dreht, als dass irgendeiner aussteigen könnte.


Kritik:
Wer hin und wieder den Großstadtverkehr zu sehen bekommt, wundert sich eigentlich, dass so etwas nicht öfter geschieht. Wie oft sitzt man selbst im Auto, streckt nach einem unverständlichen Manöver des Vordermanns beide Arme unverständig in die Höhe und malt sich in Gedanken aus, was passieren würde, wenn man nun aussteigen und sich den "unfähigen Idioten" vorknöpfen würde.
So geschieht das zwar nicht in Spurwechsel, Ähnlichkeiten zwischen beiden Szenarien gibt es allerdings doch.

Die Geschichte selbst dürfte wohl keinem Erwachsenen zu überdreht vorkommen. Dass so etwas in Grundzügen möglich ist, kann man sich schon vorstellen. Dass ein Anwalt wie Gavin allerdings einen dubiosen Herrn beauftragt, das Konto von Doyle Gipson zu löschen, um ihn so unter Druck zu setzen, und Doyle seinerseits Gavin Schnipsel des gewünschten Vertrages per Bote zukommen lässt, wirkt auf den ersten Blick doch etwas weit hergeholt.
Das Drehbuch versteht es allerdings, diese recht abstrusen Storyentwicklungen anhand von Szenen, Gesprächen und Hintergründen der Charaktere plausibel darzubringen, so dass man nicht das Gefühl bekommt, all das wäre nur geschrieben worden, um den schlimmsten anzunehmenden Fall zu schildern.
An einem falschen Tag könnte man so handeln, wenn man seine Prinzipien über Bord wirft und wie Doyle alles verloren hat – oder in Gavins Fall alles verloren glaubt.
Um das Ganze noch zu verschärfen, hat Autor Chap Taylor viele kleine Einzelheiten eingebaut, um das Konfliktpotential zu erhöhen:
Gavin hatte eine Affäre mit Michelle (Toni Collette), einer Mitarbeiterin der Kanzlei. Gavin muss im Laufe des Films erkennen, dass sein Schwiegervater zu allem bereit wäre, um die Erbeinsetzungserklärung ins Gericht zu bringen. Doch wozu? Inwiefern profitiert er davon, und wieso sollte unbedingt Gavin den Fall übernehmen? Als wäre das nicht genug, mischt sich auch noch seine nicht gerade anspruchslose Frau Cynthia (Amanda Peet) in Gavins Entscheidungen diese Akte betreffend ein.
Doyle hingegen ist ein trockener Alkoholiker, der sich nicht nur mit der Versuchung des vermeintlichen flüssigen Glücks auseinandersetzen muss, sondern gleichzeitig alles nur Erdenkliche tut, um seine Frau von einem Umzug in eine andere Stadt abzubringen.
Die Story funktioniert somit auf vielen Ebenen; ansich werden auch mehrere Geschichten erzählt. Zum einen die Konfrontation von Gavin und Doyle; andererseits wird die noble Fassade der Oberen Zehntausend der Gesellschaft – und das bezieht sich auf mehrere Charaktere im Film – mit minutiöser Präzision auseinandergenommen. Viele gesellschaftskritische Gespräche und Entwicklungen haben den Weg in das Drehbuch gefunden und heben es, zusammen mit den aufgedeckten Vorurteilen, deutlich über das Mittelmaß hinaus.

Sicherlich erinnert das Konzept ein wenig an den zeitlosen Klassiker in diesem Genre, Falling Down – Ein ganz normaler Tag [1993], obwohl Spurwechsel leider nicht wie der Michael Douglas-Film ein so mutiges Ende findet und nicht an dessen Klasse heranreicht.
Bei Regisseur Michells Film kommt das Ende weit verträglicher, wenn auch nicht völlig positiv daher. Mit etwas mehr Mut zu einem unkonventionellen Schluss wäre sicherlich eine höhere Wertung möglich gewesen. Es ist nicht so, dass man eine Disney-konforme Auflösung erwarten sollte, kritisch bleibt der Film dennoch. Allerdings wirkt es für den Rest des Films und die teils sehr harten Mittel, mit denen sich die beiden Männer bekämpfen, zu versöhnlich, was die Zuschauer aber nicht stören sollte.

Getragen wird der Film zweifelsohne von den beiden sehr guten Hauptdarstellern Samuel L. Jackson und Ben Affleck, die in ihren Rollen voll und ganz aufgehen, und ihre Motivation für den Zuschauer spürbar machen.
Insbesondere Jacksons Darstellung des verzweifelten Familienvaters, der um seine Kinder kämpft und aufgrund der Geschehnisse keinen Sinn mehr im Verzicht auf Alkohol sieht, hat mir sehr gut gefallen. Mit teils sehr eindrucksvoller aber zurückhaltender Mimik und Gestik, an der die Zuseher seine Gedanken ablesen können, portraitiert er den Charakter.
Doch der junge Ben Affleck muss sich davor nicht verstecken. Den erfolgreichen Anwalt, dessen Welt vor seinen Augen zerfällt, und der langsam den wahren Charakter der Menschen um ihn herum erkennen muss, spielt er mit derselben Hingabe und Überzeugung. Sein charakterlicher Wandel und seine Zweifel stehen dabei offenkundig im Vordergrund, und zu sehen, wie er zu immer extremeren Mitteln greift, um zu erreichen, was er möchte – obwohl er gar nicht mehr richtig weiß, ob er das überhaupt möchte – ist eine wahre Freude.

Auch die Nebendarsteller, angefangen bei Sydney Pollack, Toni Collette, Kim Staunton und Amanda Peet sind exzellent ausgewählt – sogar William Hurt hat ein paar kurze Auftritte. Sie alle haben sicherlich nicht so viel zu tun wie die beiden Hauptdarsteller, aber dass sie damit unzufrieden wären, sieht man nicht; im Gegenteil.

Ebenfalls sehr interessant ist der Einsatz von Kamera und Schnitt, die nicht nur durchdacht wirken, sondern vor allem zu Beginn einen sehr dokumentarischen Stil verfolgen. Viel Handkamera, viel natürliches Licht – vielleicht ist es gerade zu Beginn im Gerichtssaal etwas zuviel, aber es wirkt nicht wirklich störend oder ungeübt. Man hat das Gefühl, als hätte Regisseur Michell genau diesen Stil dafür ausgesucht, um eine Realitätsnähe zu schaffen und das Geschehen glaubhaft zu vermitteln.
Wann die Kamera die Personen aus einer gewissen Entfernung einfängt, und wann die Charaktere sehr groß im Fokus sind, wirkt ebenso beabsichtigt, wie der teils sehr gute Schnitt, der immer genug Übersichtlichkeit bietet, um nicht den Faden zu verlieren.

Zu Beginn gewöhnungsbedürftig, aber gut geraten ist die Musik von David Arnold (Independence Day [1996]), der neben einem sehr ruhigen und melodiösen Thema vor allem mit atmosphärischen Stücken aufwarten kann, die aufgrund ihrer schnellen und teils harten Beats auf den ersten Blick eher in eine Disco, als in einen Film passen – doch gerade diese Musikform fällt im Film nie negativ auf, vermittelt dafür aber ein ungeheures Tempo- und Spannungsgefühl.

Spurwechsel war der erste Film, der in New York nach dem 11. September 2001 gedreht wurde – eine ungewöhnliche Premiere. Dennoch wollten die Macher hier nicht die vielgerühmten amerikanischen Werte in den Himmel loben, sondern aufzeigen, wie leicht zwei Menschen aus der Bahn geworfen werden können, und wie wenig manchmal doch fehlt, um eine solche Streitigkeit beizulegen oder sie aber eskalieren zu lassen – ab und zu entscheiden nur wenige Sekunden über den Verlauf des weiteren Lebens.

Eine bessere Wertung gibt es dennoch nicht, obwohl Spurwechsel ein wirklich guter Film ist. Vielleicht wäre er mit einem der alternativen Enden und den entfallenen Szenen, die auf der US-DVD enthalten sind, besser geworden. Angesichts von viel schlechteren Filmen, die dieses Jahr schon deutlich mehr Geld eingespielt haben, ist Changing Lanes, so der Originaltitel, aber ein interessantes, sehenswertes und unkonventionelles Thriller-Drama, bei dem Regisseur Roger Michell, Notting Hill [1999], zeigt, dass er sein Handwerk beherrscht.


Fazit:
Geschätzte 19 Millionen Menschen leben in New York, Tendenz leicht steigend. Wenn hier zwei Menschen, die so unterschiedlich gar nicht sind, aufeinanderprallen und zu extremen Mitteln greifen, um ihre Ziele zu erreichen, bleibt vielleicht die reine Spannung hin und wieder auf der Strecke, der Unterhaltungswert allerdings nie.
Getragen von zwei sehr guten Darstellern ist Spurwechsel ein interessantes Drama mit Thrilleranteil und einer deutlichen moralischen Botschaft.