Der Zopf [2023]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 10. Februar 2024
Genre: Drama

Originaltitel: The Braid (La tresse)
Laufzeit: 121 min.
Produktionsland: Frankreich / Kanada / Italien / Belgien
Produktionsjahr: 2023
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Laetitia Colombani
Musik: Ludovico Einaudi
Besetzung: Mia Maelzer, Fotinì Peluso, Kim Raver, Sajda Pathan, Avi Nash, Sarah Abbott, Katherine King So, Mimmo Mancini, Manuela Ventura, Francesco Marinelli


Kurzinhalt:

In Nordindien entschließt sich Smita (Mia Maelzer), zusammen mit ihrer kleinen Tochter Lalita (Sajda Pathan) in den Süden zu ihren Cousins zu reisen. Es ist ein riskantes Unterfangen, da sie zum einen mittellos sind, aber auch als „Unberührbare“ von vielen anderen Inderinnen und Indern geächtet werden. Smita will ihrer Tochter ein besseres Leben ermöglichen, als es ihr selbst möglich ist. Währenddessen steht in Süditalien die junge Giulia (Fotinì Peluso) vor den Scherben des Familienbetriebs ihres Vaters (Mimmo Mancini). Nach einem Unfall liegt dieser im Koma und es obliegt Giulia, einen Weg aus der finanziellen Not zu finden. Die Lösung könnte eine Beziehung zu einem wohlhabenden Freund der Familie sein, dabei hat sie sich selbst erst in Kamal (Avi Nash) verliebt. Im kanadischen Montreal muss sich die alleinerziehende, erfolgreiche Anwältin Sarah (Kim Raver) allein einer erschütternden Diagnose stellen. Um eine Karrierechance nicht zu gefährden, entscheidet sie sich, im Geheimen eine Behandlung durchzuführen, doch die dreifache Belastung ist schließlich zu viel. Sie alle verbindet etwas, das sie nicht ahnen und auch nie erfahren werden.


Kritik:
Wohin die drei von einander unabhängigen Erzählstränge in Der Zopf führen, ist spätestens ab der Hälfte abzusehen. Nicht aber, mit welch emotionaler Wucht Filmemacherin Laetitia Colombani die so unterschiedlichen Frauenschicksale erlebbar macht. Von einer fantastischen Besetzung preiswürdig zum Leben erweckt und erstklassig bebildert, erscheint das Drama auf eine Art und Weise aus dem Leben gegriffen, dass einen die Figuren und was sie erleben nur noch mehr berührt.

Die Erzählung beginnt in Nordindien, wo Smita, die mit ihrem Mann und ihrer Tochter Lalita in einer kleinen Hütte lebt, mit dem Krähen des Hahns erwacht. Sie gehören den „Dalit“ an, der untersten Gruppe der hinduistischen Gesellschaft. Die Dalit sind nicht einmal Teil des dogmatischen Kastenwesens und werden auch „Unberührbare“ genannt. Entsprechend können und dürfen sie keine höheren Arbeiten übernehmen. Während ihr Mann auf den Feldern jagt, leert Smita die Latrinen, überschüttet den Unrat mit Asche und entsorgt ihn. Um dem Zorn der Bessergestellten zu entgehen, bedeckt sie sich. Smita möchte, dass ihre Tochter es besser hat, als sie selbst und ihr nicht nachfolgen muss. So nimmt ihr Mann das gesparte Geld, das für eine Untersuchung gedacht war, da Smita auf Grund der Asche, mit der sie arbeiten muss, stark hustet, und bezahlt den örtlichen Lehrer, Angehöriger der höchsten Kaste der Brahmanen, dass Lalita unterrichtet wird, dass sie lesen und schreiben lernt. Doch nachdem ihre Tochter mit Blessuren nach Hause kommt, entschließt Smita, in den Süden zu fliehen, auch wenn ihr Mann aus Angst vor der Gewalt, die ihresgleichen angetan wird, wenn sie die Arbeit verweigern, nicht mitkommen möchte.

Der zweite Erzählstrang handelt von der jungen Giulia in Süditalien, die im Betrieb ihres Vaters arbeitet. Die junge Frau, die ihre Zeit am liebsten mit Büchern verbringt, sieht sich unversehens damit konfrontiert, dass sie den Betrieb leiten muss, während die Bank ihr eröffnet, dass das Atelier, in dem Haare für Perücken aufbereitet werden, in so großen finanziellen Schwierigkeiten steckt, dass in einem Monat bereits der Bankrott droht. Während sich Giulia in den aus Indien eingewanderten Kamal verliebt, wird sie von ihrer Mutter gedrängt, sich auf einen Freund der Familie einzulassen, der seit jeher in Giulia verliebt und wohlhabend genug ist, wenigstens die Hypothek des Familienhauses zurückzukaufen, so dass nicht alles verloren ist, wenn das Lebenswerk ihres Vaters zerfällt.
Auf der anderen Seite des Globus im kanadischen Montreal sieht sich die erfolgreiche Anwältin und Partnerin der Anwaltskanzlei, Sarah, einem Angebot gegenüber, das sie kaum ablehnen kann: sie soll geschäftsführende Teilhaberin werden. Doch die Belastung als alleinerziehende Mutter mit drei Kindern und einem Job, der Tag für Tag 200 % von ihr fordert, zehrt an ihr, bis ihr ein medizinischer Befund den Boden unter den Füßen entreißt.

Jede einzelne der Geschichten, eine mittellose Mutter in Indien, die mit ihrer Tochter eine Reise ins Ungewisse antritt, hin zu einem Ziel, von dem sie nicht wissen, ob sie es überhaupt erreichen können, über die junge Frau, deren Lebenstraum vor ihren Augen zerbricht und deren einzige Lösung es scheint, sich einer Zweckbeziehung hinzugeben, bis hin zu der Anwältin, die in ihren dunkelsten Stunden ganz auf sich gestellt ist, wäre mehr als genug für eine eigene Erzählung. Der Zopf kombiniert sie, wechselt sie ab und verbindet sie, auch im Wesen der jeweiligen Protagonistinnen, um herauszustellen, was diese so unterschiedlichen Frauen miteinander verbindet, ohne dass sie selbst es je erfahren oder gar erahnen würden. Ihr Werdegang und ihre Umgebung könnten unterschiedlicher kaum sein. Ebenso ihre grundsätzlichen Möglichkeiten. Doch sie alle finden sich in Situationen wieder, die ihr Leben, ihre blanke Existenz bedrohen.

Mit einer kaum beschreibbaren Authentizität gelingt es Filmemacherin Laetitia Colombani, diese grundverschiedenen Umstände vorzustellen und das Publikum unmittelbar an die Seite dieser Frauen zu versetzen. Die durchgehend greifbare Bedrohung für Smita und ihre Tochter wird damit ebenso spürbar, wie die geradezu überwältigende Aussichtslosigkeit, der sich Giulia auch angesichts eines so unerwarteten wie schmerzlichen Verlustes gegenübersieht. In einer preiswürdigen Darbietung bringt Kim Raver zum Ausdruck, wie die Einsamkeit in ihrer beängstigenden Situation Sarah übernimmt und wie sie sich selbst in ihrem Bestreben, den Beruf, die Familie und ihre Behandlung zu meisten, immer mehr zerreißt. Das mitanzusehen, ist ebenso packend, wie Mia Maelzers Verkörperung von Smita oder Fotinì Pelusos Porträt der anfangs geradezu verträumt unbeschwert auftretenden Giulia, die sich unvermittelt in einem auch für sie selbst ausweglos erscheinenden Alptraum wiederfindet.

Diese Frauen dabei zu begleiten, wie sie kaum vorstellbare Hindernisse überwinden und am Ende stärker aus alledem hervorgehen, ist so inspirierend wie bewegend. Das verbindende Element der einzelnen Erzählungen ist dabei keine große Überraschung, wie auch die grundsätzlichen Entwicklungen nicht, doch die emotionale Wirkung hebt Der Zopf deutlich darüber hinweg, was die verschiedenen Erzählstränge für sich genommen bewirken. Trotz der dramatischen und bedrohlichen Erlebnisse dieser Figuren, ist die Aussage unumwunden lebensbejahend und hoffnungsvoll. Es unterstreicht umso mehr, weshalb Colombanis Film nicht nur wichtig ist, sondern auch wertvoll.


Fazit:
So sehr man glaubt, mit Smita und ihrer Tochter mitfühlen zu können, zwei Momente rücken das eigene Weltbild in eine Perspektive, die unvermittelt betroffen macht. Zum einen, wenn ein Zugticket, das weit weniger als 10 Euro kostet das gesamte Ersparte der mittellosen Mutter auffrisst. Aber noch viel mehr, wenn ihr von einer Witwe gesagt wird, man werde in Indien „besser als Kuh geboren, denn als Frau“. Die Kühe würden besser behandelt. Anstatt sich ihrem Schicksal zu ergeben, kämpfen Smita, Giulia und Sarah für ein besseres, für ein Weiterleben. Die Lebensunterschiede der drei Frauen sind zwar grundverschieden, was sie jeweils bedroht aber geradezu paralysierend unüberwindbar. Von einer tollen Besetzung greifbar packend zum Leben erweckt und ebenso erstklassig authentisch umgesetzt, erzählt Regisseurin Laetitia Colombani ein starkes und wichtiges Porträt, das trotz der bedrückenden Momente am Ende Hoffnung ausstrahlt. Der Zopf ist ein sehens- und bemerkenswertes Plädoyer, für das Leben zu kämpfen. Diese unterschiedlichen Frauen begleiten zu dürfen, wie sie über sich hinauswachsen und entdecken, was das Wichtigste in ihrem Leben ist, ist berührend und bewegend, wenn auch thematisch an ein ruhiges Publikum gerichtet.