Windstill [2020]
Wertung: |
Kritik von Jens Adrian |
Hinzugefügt am 3. Oktober 2021
Genre: DramaLaufzeit: 115 min.
Produktionsland: Deutschland
Produktionsjahr: 2020
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren
Regie: Nancy Camaldo
Musik: Michael Lauterbach
Besetzung: Giulia Goldammer, Barbara Krzoska, Thomas Schubert, Anselm Bresgott, Patricia Graf, Timo Jacobs, Anna Platen, Timocin Ziegler, Konstantin Rommelfangen, Eva Kuen
Kurzinhalt:
Ihr ursprüngliches Ziel, Medizin zu studieren, hat Lara (Giulia Goldammer) aufgegeben, als sie schwanger wurde. Inzwischen ist ihre und Jakobs (Thomas Schubert) Tochter Olivia ein Jahr alt. Tagsüber kümmert sie sich um das Kind, während Jakob als Koch im Restaurant arbeitet, auch wenn ihn die Arbeit nicht glücklich macht. Nachts fährt Lara Taxi. Beiden fehlt die Kraft, zueinander zu finden und während die Tage und Nächte im Münchner Sommer immer heißer werden, wächst die permanente Beanspruchung Lara zunehmend über den Kopf. So lässt sie eines Tages das Kind wortlos bei Jakob in der Arbeit zurück und fährt nach Südtirol. Während Jakob versucht, sich den neuen Gegebenheiten als alleinerziehender Vater zu stellen, sieht sich Lara auf dem Bauernhof ihrer verstorbenen Eltern ihrer entfremdeten Schwester Ida (Barbara Krzoska) gegenüber. Sie hat sich mit Rafael (Anselm Bresgott) Hilfe geholt, um den Hof zu bewirtschaften. Das Wiedersehen mit Lara reißt alte Wunden auf, die nie verheilt waren …
Kritik:
Nancy Camaldos Windstill erzählt in ruhigen, beobachtenden Bildern eine Geschichte von Menschen, die dabei sind, an ihrem Leben zu zerbrechen. Dabei spricht sie denjenigen, die sich in ähnlichen Situationen wiederfinden, aus der Seele. Eindrucksvoll gespielt und in prägnanten Einstellungen gefilmt, bleiben jedoch sämtliche Erzählstränge hierin unvollendet, was zu der berechtigten Frage führt, was das Publikum von dem beinahe zwei Stunden langen Drama mitnehmen soll.
Die zwei Frauen, die das von der erst 29jährigen Filmemacherin Camaldo geschriebene Drehbuch in ihrer Abschlussarbeit an der Filmhochschule vorstellt, könnten unterschiedlicher kaum sein. Auf der einen Seite steht Ida, die beim Kitesurfen in einer landschaftlichen Idylle unbeschwerter kaum erscheinen könnte. Auf der anderen Lara, die mit Jakob und der gemeinsamen, einjährigen Tochter Olivia in München lebt. Gemeinsame Zeit hat das junge Paar kaum. Tagsüber kümmert sie sich um das Baby, während Jakob als Koch in einem Restaurant, bei dem ihm die Arbeit keine Freude bereitet, von dem Chefkoch schikaniert wird. Nachts fährt Lara für ein privates Taxiunternehmen. Es ist ein Alltag, aus dem jegliche Zärtlichkeit, ein Miteinander, verschwunden ist, begraben unter den tagtäglichen Mühen. Sieht man Lara, die am Tag keine Minute Zeit für sich hat, duscht, während Olivia vor ihr sitzt, wird ihr Wunsch umso greifbarer, auch wieder als Frau und nicht nur als Mutter wahrgenommen zu werden, wenn sie sich selbst vor dem Spiegel in Augenschein nimmt. Die Kraft für Gemeinsamkeiten haben Lara und Jakob nicht, selbst wenn er sich auf eine Kellnerin im Restaurant einlässt. Eines Tages gibt Lara Olivia bei Jakob in der Arbeit ab – und verschwindet, ohne dass er wüsste, wohin.
Ihr Weg führt sie in ihre Heimat, auf den Bauernhof ihrer verstorbenen Eltern in Südtirol, der seither von ihrer Schwester Ida bewirtschaftet wird. Windstill beschreibt das Wiedersehen der entfremdeten Schwestern, während als weiterer Erzählstrang Jakobs neue Rolle als alleinerziehender Vater geschildert wird. Was genau Lara hofft, in ihrer Heimat zu finden, sagt sie nicht und es wird auch nicht deutlich. Womöglich ist sie weniger auf der Suche nach einem Ziel, als darum bemüht, ihrem bisherigen Leben zu entfliehen. Vielleicht sieht sie in ihrer Heimat auch einen sicheren Hafen, ein Ort der Routine, ein Leben, das sei aufgegeben hat, als sie auszog, in München zu studieren. Ihre damaligen Zukunftspläne haben sich nicht erfüllt, ebensowenig diejenigen von Ida, die immer ein Buch schreiben wollte, mit der Arbeit auf dem Hof aber vollkommen ausgelastet ist. Sie hat sich über eine Internet-Annonce Hilfe geholt, den deutlich jüngeren Rafael, mit dem sie mehr als nur die Arbeit teilt. Ihr gemeinsames, erotisches Rollenspiel ist ein Moment, der in der Geschichte an sich nicht notwendig ist und die beiden jungen Darsteller in eine überaus peinliche Situation manövriert.
So interessant es ist, diese Figuren vorgestellt zu sehen und wie unterschiedlich ihr Leben verlaufen ist, ebenso, wie Jakob versucht, die neue Situation zu meistern, ab spätestens der Hälfte des Films kommt die Frage auf, worauf die Charaktere zusteuern, was ihr eigentliches Ziel innerhalb der Erzählung sein soll. Eine wirkliche Antwort liefert Windstill nicht und so erscheinen einzelne Szenen der Figuren, wenn Lara beispielsweise im Schlafzimmer ihrer verstorbenen Eltern steht, oder wenn Ida völlig geschockt zum ersten Mal ihrer Nichte gegenübersteht, losgelöst und ohne spürbare Auswirkung. Es ist nicht, dass die Momente keine Aussage oder Berechtigung hätten, ganz im Gegenteil. Nur führen sie am Ende nicht greifbar zu einem Ergebnis und sind oftmals länger, als sie sein müssten. Hinzu kommen Dialoge, die nicht in Bezug auf die Sprache konstruiert klingen, sondern darauf, dass sie vorzeitig abbrechen, dass die unausweichliche Aussprache zwischen den Figuren nur in die Länge gezogen wird. Ist es endlich soweit, dass die verschiedenen Persönlichkeiten aufeinanderprallen, sie aus ihrer introvertierten Defensive treten, beweist das Drama, wie bemerkenswert die Besetzung ist, die diese Geschichte zum Leben erweckt. Vor allem Giulia Goldammer, Barbara Krzoska und Thomas Schubert sind gefordert und werden dem mehr als gerecht, was insbesondere in den Szenen deutlich wird, die ohne Dialoge auskommen müssen. Auch Anselm Bresgott macht seine Sache gut.
Die Bilder sind nicht nur toll ausgewählt, sondern mit einer Sicherheit dargebracht, dass umso mehr manche Entscheidungen verwundern, wie die letzten Einstellungen, oder relativ zu Beginn, wenn die Musik mit einem Szenenwechsel unpassend abbricht. Sieht man davon ab, beweist Nancy Camaldo ein Gespür für eine greifbare Authentizität bei der Darstellung dieser so unterschiedlichen, ungeplanten Lebensentwürfe. Ihr gelingen feine Beobachtungen, die umso mehr aufhorchen lassen, was die Beteiligten als nächstes angehen.
Fazit:
Nancy Camaldo stellt ihre Figuren vor, deren Lebenswege weit auseinander gedriftet sind und die doch am selben Punkt angekommen scheinen, gefangen in einem Alltag, den sie so nie wollten. Dass Laras Rückkehr in ihr Elternhaus alte Wunden mit ihrer Schwester Ida aufreißt, ist spürbar, selbst wenn sich die Figuren die längste Zeit anschweigen. Die Filmemacherin nähert sich ihnen unverblümt, rau und in ihrer Bilderauswahl dicht an den Charakteren. Das Drama erzählt durch stille Beobachtung seine Geschichte, durch die Mimik der Figuren mehr, als durch Dialoge. Das ist kein Kritikpunkt, es macht es nur schwerer, das Gezeigte zu deuten. Im gleichen Zug besitzt Windstill eine Aussage, die durch das, was den Figuren widerfährt, eine Wirkung entfaltet und weniger durch ihre Handlungen oder das Ziel, das sie anstreben. Das wird auch durch die letzten Eindrücke deutlich, bei denen es dem Publikum überlassen bleibt, ob sie die Wirklichkeit darstellen, oder (eher) nicht. Handwerklich ist das mit sicherer Hand umgesetzt und stark gespielt. Aber viele Szenen sind länger, als sie sein müssten, verharren in Momenten, deren Bedeutung lange bereits angekommen ist und auch dauert es erzwungen lange, ehe die Personen sich die Fragen stellen – und Antworten verlangen – die man selbst als erstes gestellt hätte. So wird das Drama letztlich nur länger, nicht aber aussagekräftiger. Und obwohl sich insbesondere junge Erwachsene im Schicksal von Lara, Jakob und Ida wiederfinden werden, werden sie sich fragen, was für eine Botschaft sie hier mitnehmen sollen.