The Ledge - Am Abgrund [2011]

Wertung: 3.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 09. März 2012
Genre: Drama / Thriller

Originaltitel: The Ledge
Laufzeit: 101 min.
Produktionsland: USA / Deutschland
Produktionsjahr: 2011
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Matthew Chapman
Musik: Nathan Barr
Darsteller: Charlie Hunnam, Terrence Howard, Liv Tyler, Patrick Wilson, Jaqueline Fleming, Christopher Gorham, Maxine Greco, Geraldine Singer, Dean J. West, Jillian Batherson, Tyler Humphrey, Mike Pniewski, Katia Gomez


Kurzinhalt:
Mit entschlossenem, aber nicht verzweifeltem Blick steht Gavin Nichols (Charlie Hunnam) vor dem Polizist Detective Hollis Lucetti (Terrence Howard) auf dem Vorsprung des Hochhaues. Der junge Mann sagt selbst, dass er nicht springen will – aber er muss. Sonst wird jemand anderes sterben. Als Hollis nachhakt, erzählt Nichols davon, wie er mit seinen neuen Nachbarn, Joe (Patrick Wilson) und Shana Harris (Liv Tyler) ins Gespräch kam. Shana hat er sogar als Zimmermädchen im Hotel eingestellt, in dem er arbeitet. Als Gavin beobachtet, wie Shana von Joe herumkommandiert wird, und wie Joe durch seinen konservativen Glauben Ansichten vertritt, die seinen so sehr widersprechen, macht er es sich zur Aufgabe, Shana von Joe zu befreien.
Seine Versuche, ihr näher zu kommen, gelingen sogar, auch wenn er selbst mehr für sie empfindet, als er sich zunächst eingestehen möchte. Doch Joe ist niemand, der sich abweisen lässt. Und in der Bibel findet er genügend Rechtfertigungen für eine Vergeltung, die ihm zumindest teilweise Genugtuung verschafft ...


Kritik:
Ein Mann, der zu einer festgesetzten Zeit von einem Hochhaus springen muss, weil sonst eine andere Person stirbt – zusammen mit dem Polizisten, der ihn vor seinem Sprung befragt, könnte dies ein spannender Thriller sein. Doch Regisseur und Autor Matthew Chapman entscheidet sich, die Geschichte als Drama zu erzählen, das die Extreme des Glaubens auslotet. Trotz des dahinplätschernden Geschehens könnte man sich bei The Ledge damit abfinden, würde der Film nicht in den letzten 10 Minuten zeigen, was in ihm stecken könnte. Dann zieht das Erzähltempo an und bringt endlich das Dilemma der Figuren auf den Punkt. Man könnte auch behaupten, die letzten Minuten heben den Film über das träge Mittelmaß hinaus, in welchem er zuvor versumpft.

Die Ausgangslage selbst kommt einem dabei durchaus bekannt vor: Eines Morgens begibt sich Gavin Nichols auf ein Hochhausdach. Der Polizist Hollis Lucetti soll ihn davon überzeugen, nicht zu springen. Seine Erfolgsquote ist, wie er selbst sagt, nicht schlecht. Dann beginnt Gavin, ihm davon zu erzählen, weswegen er springen muss. Nicht will, sondern muss. Er setzt dabei an, wie er zum ersten Mal auf seine neuen Nachbarn, das Ehepaar Harris, aufmerksam wurde. Während Shana zurückhaltend erscheint, bis hin zur Schüchternheit, scheint Joe sehr dominant. Bei einem Abendessen sehen wir, wie er sie herumkommandiert, ohne selbst einen Finger zu rühren. Wir erfahren, dass sie überzeugte Gläubige sind, auch wenn es nicht so sehr interessiert, welcher Glaubensrichtung sie angehören. "Liebe den Sünder, hasse die Sünde", so begründet Joe, weswegen er Gavins Mitbewohner, den schwulen Chris, retten will, ehe er irgendwann in der Hölle landet. Es prallen bei Gavin und Joe nicht nur zwei unterschiedliche Persönlichkeiten aufeinander, sondern zwei Weltanschauungen, die jeweils ins Extreme abdriften. Während Joe in Gott und Jesus seine Erlösung sieht, will Gavin an nichts glauben, was ihm nicht bewiesen ist. Und doch ahnen wir, dass mehr hinter den Figuren steckt. Auch hinter Shana, die wie es scheint, den Glauben mehr auslebt, um Joe zu gehorchen, als dass sie selbst glaubt.
Alle drei Figuren sind durch ihre traumatische Vergangenheit die Summe ihrer Erlebnisse und es ist in der Tat erstaunlich, wie Autor Chapman Details wie Gavins Alkoholgenuss verarbeitet, nur um später darauf Bezug zu nehmen. Um ihr Leben neu zu ordnen, haben Gavin und Joe unterschiedliche Richtungen eingeschlagen. Shana sitzt hier zwischen den Stühlen und ist gleichermaßen hin- und hergerissen, wofür sie sich entscheiden soll. Kann man sich überhaupt für jemanden entscheiden, wenn man sein Leben einem anderen verdankt? Doch als wären das nicht genügend Schicksale, findet sich auch in Hollis eine Figur, die nach einer für ihn weltverändernden Erkenntnis eine (Glaubens-)Krise zu überstehen hat.

The Ledge - Am Abgrund bietet genügend Konfliktpotential, das sich aber meist nur um die Frage "Glaubst Du an Dich selbst, oder an Gott?" dreht. Die Streitgespräche, die daraus erwachsen, bringen all jene Punkte an, die man, wenn nicht nur oft genug gehört, dann zumindest für eine Seite selbst in Gesprächen vorgebracht hat. Gleichzeitig versieht der Regisseur seine Bilder oft mit Symbolen oder Kreuzen, um seine Thematik zu unterstreichen. Neue Impulse gibt es hierbei nicht, zumal die drängende Frage, in welcher Situation sich die andere, ansonsten Tod geweihte Person befindet, bis kurz vor Ende nicht aufgelöst wird.
Bis es soweit ist, muss man eineinhalb Stunden überstehen, die nur gelegentlich für Unwohlsein angesichts der Spannungen zwischen den Charakteren sorgen. Andererseits, zu sehen, wie Gavin die richtigen Worte findet, um Shana zum Nachdenken zu bringen, um in ihr eine Revolution gegen Joe auszulösen, ist hingegen wieder treffend eingefangen. Überhaupt bleiben bei The Ledge die Darsteller als durchgängig sehenswert in Erinnerung. Liv Tyler spielt die gewöhnliche Frau von nebenan, in der es zu brodeln beginnt, überzeugend und dezent. Auch in Terrence Howard erkennt man, welche Überwindung es ihn kostet, trotz seines aufgewühlten Privatlebens bei Gavin sachlich zu bleiben. Was in Joe Harris vorgeht, bringt Patrick Wilson durch sein beherrschtes, bis explosiv emotionales Spiel sehenswert zur Geltung. Einzig Charlie Hunnam gelingt es zu selten, Gavin aus dem Schema des manipulativen Liebhabers ausbrechen zu lassen.


Fazit:
Was The Ledge - Am Abgrund hätte sein können, zeigt der Film in den finalen 10 Minuten. Dass Regisseur Matthew Chapman die Geschichte nicht als Thriller, sondern als Drama erzählt, ist seine Entscheidung, die von den Darstellern auch mit Überzeugung und Ernsthaftigkeit verkörpert wird. Doch interessiert das Drama um die Figuren nur phasenweise, teilweise auch, gerade weil sämtliche Charaktere bis ins Detail erklärt werden.
Als Exkurs, wozu der Glaube einen verleiten kann, sowohl im Guten, wie auch im Schlechten, mag der Film ein gut gemeinter Beitrag sein, auch wenn es hier für beide Extreme schon packendere gab. Auf Grund der Auflösung bleibt The Ledge als bewegender in Erinnerung, als er tatsächlich ist. Doch zeigt das Drama in jenen Momenten nicht, was es ist, sondern was es hätte sein können.