Niemals selten manchmal immer [2020]

Wertung: 5.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 5. September 2020
Genre: Drama

Originaltitel: Never Rarely Sometimes Always
Laufzeit: 101 min.
Produktionsland: Großbritannien / USA
Produktionsjahr: 2020
FSK-Freigabe: ab 6 Jahren

Regie: Eliza Hittman
Musik: Julia Holter
Besetzung: Sidney Flanigan, Talia Ryder, Théodore Pellerin, Ryan Eggold, Sharon Van Etten, Kelly Chapman, Kim Rios Lin, Drew Seltzer, Carolina Espiro


Kurzinhalt:

Als sie vermutet, dass sie schwanger sein könnte, sucht die 17jährige Autumn Callahan (Sidney Flanigan) ein Krisenzentrum für Schwangere auf. Die dortige Ärztin bestätigt Autumns Ahnung, aber als sie den Wunsch äußert, einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen, wird ihr stattdessen Informationsmaterial ausgehändigt und ein Video von Abtreibungsgegnern gezeigt. Darüber hinaus bräuchte sie in ihrem Bundesstaat als Minderjährige die Einwilligung der Eltern. So macht sich Autumn zusammen mit ihrer Cousine Skylar (Talia Ryder) auf den Weg nach New York, um dort in einer Klinik eine Abtreibung durchführen zu lassen. Doch das dauert länger als geplant und so finden sich die beiden jungen Frauen ohne ausreichend Geld oder eine Bleibe für die kommenden Nächte in der Großstadt wieder …


Kritik:
Das Drama Niemals selten manchmal immer von Filmemacherin Eliza Hittman ist auf eine unvorstellbar packende Art und Weise zurückhaltend, dass die wenigen Momente, in denen die Emotionen der Hauptfigur durchbrechen, wie ein Gewittersturm über dem Publikum hereinbrechen. Die Geschichte erzählt die Reise der 17jährigen Autumn, die sich mit ihrer Cousine auf den Weg macht, eine ungewollte Schwangerschaft zu beenden. Dass beide wenig miteinander sprechen, zwingt das Publikum, sich die entscheidenden Fragen selbst zu stellen. Das ist oft nicht angenehm.

Das Porträt, das die Regisseurin hier zeichnet, könnte entmutigender kaum sein. Zu Beginn nimmt Autumn an einem Wettbewerb teil und wird noch auf der Bühne von einem Ruf aus dem Publikum beleidigt und angegriffen. Während ihre Mutter sie zuhause für den Auftritt lobt, erhält sie von ihrem Vater keine Unterstützung Er frühstückt allein in der Küche, während die Kinder im Zimmer nebenan essen. Vom Idealbild einer Familien ist dies weit entfernt. Neben der Schule arbeitet Autumn als Kassiererin in einem Supermarkt, zusammen mit ihrer Cousine Skylar. Ein inniges Verhältnis scheinen beide nicht zu haben, auch wenn Skylar mehr um Autumn bemüht ist, als anders herum. Doch beide haben mit denselben Erniedrigungen zu kämpfen, werden von Kunden, die älter sind als ihre Väter, gedrängt, sie auf Partys zu Hause zu besuchen oder müssen sexuelle Belästigungen durch ihre Kollegen erdulden.

Dann erfährt Autumn, dass sie schwanger ist. Was in ihr vorgeht, kann man nur erahnen. Sie weiht niemanden ein, vertraut sich ihrer Familie oder Freunden nicht an. Wer der Vater ist, wird nicht erwähnt, ihre Cousine, die wenig später von der Schwangerschaft erfährt, fragt auch nicht danach. Es würde am Ende offenbar keine Rolle spielen. Als Autumn gesagt bekommt, sie sei schwanger, ist ihre erste Reaktion, dass sich selbst ein Nasenpiercing sticht, als wollte sie sich markieren, selbst bestimmen, was mit ihrem Körper geschieht. Nachdem sich Autumn entscheidet, das Kind abtreiben lassen zu wollen, zeigt ihr die Frauenärztin ein abschreckendes Video von Abtreibungsgegnern. Als Minderjährige muss für den Eingriff in Pennsylvania zudem das Einverständnis der Eltern vorliegen. Deshalb versucht sie, eine Abtreibung selbst herbeizuführen, doch nachdem dies nicht gelingt, macht sich Autumn zusammen mit Skylar in einem Bus auf den Weg in das 300 Kilometer entfernte New York, wo sie für die Prozedur keine Erlaubnis benötigt.

Zu sehen, wie diese junge Frau auf ihren eigenen Bauch einprügelt, in der Hoffnung, damit würde sie die Schwangerschaft beenden können, versetzt dem Publikum gleichermaßen einen Schlag. Eliza Hittman bleibt dabei dicht an den Figuren und verleiht ihrem Drama mit den körnigen Bildern und den unterdrückten Farben einen spürbar authentischen Look, der sich auch auf die Darstellung der Figuren und von Autumns Familie erstreckt. Anstatt auszusprechen, was in den jungen Frauen vorgeht, reichen die Blicke zwischen ihnen aus, wenn Skylar im Bus bereits von dem jungen Jasper angesprochen wird, der ihr unbedingt seine Nummer geben will. Dass sie im Verlauf ihres Aufenthalts in der Metropole auf ihn angewiesen sind – sie müssen unerwartet zwei Nächte dort bleiben, ohne genügend Geld oder eine Unterkunft – macht es nur umso schwieriger. Niemals selten manchmal immer ist kein dialoglastiger Film, ganz im Gegenteil, doch wird Autumn in New York vor der Behandlung zu ihren Sexualpartnern und ihren Beziehungen im Allgemeinen befragt, ob sie gezwungen oder misshandelt wurde, sieht man ihre Reaktion auf diese Fragen, bei denen die Kamera unnachgiebig auf ihr Gesicht gerichtet ist, dann ist das derart eindringlich und bewegend, dass einem heiß und kalt wird. Wie vielen Mädchen und Frauen diese unscheinbare 17jährige aus der Seele spricht, mag man sich gar nicht vorstellen.

Hinsichtlich der ungeschönten und lebensnahen Darstellung von Autumns Geschichte erinnert Niemals selten manchmal immer in gewisser Weise an Lady Bird [2017]. Während jenes Drama regelmäßig aus sich herausbricht, bleibt Autumn stets introvertiert und verschlossen. Das ist kein Kritikpunkt, ganz im Gegenteil. So zwingt die Filmemacherin das Publikum, sich beispielsweise zu fragen, ob es nicht beschämend ist für eine Gesellschaft, dass junge Frauen ihre Erfahrungen nicht selbstbestimmt machen können. Oder wie es sein muss, sich täglich gegen Anzüglichkeiten oder Belästigungen wehren zu müssen. Regisseurin Hittman liefert darauf keine Antworten. Sie zeigt die Welt aus Sicht dieser zwei Figuren und überlässt den Rest uns. Dazu zählt auch, Teil der Lösung zu werden.


Fazit:
Die religiös motivierten Abtreibungsgegner, die hier lautstark vor der Klinik protestieren, stellen das genaue Gegenteil der erst 17jährigen Autumn dar, die über ihren eigenen Körper bestimmen will, noch bevor sie sich auf den Weg nach New York macht. Regisseurin Eliza Hittman erzählt aus Autumns Sicht eine Reise ins Ungewisse, aus dem ländlichen Pennsylvania in die größte Stadt der USA. Dort sind sie und ihre Cousine auf sich allein gestellt und versuchen, einen Ausweg zu finden. Mit Sidney Flanigan und Talia Ryder sind zwei der feinst schraffierten Darbietungen von jungen Darstellerinnen zu sehen, die es seit langem auf der großen Leinwand zu bestaunen gab. Niemals selten manchmal immer ist ein geradezu dokumentarisch authentisches und gleichermaßen einfühlsames wie intensives Drama um Selbstbestimmung, dessen größte Stärken in der zurückhaltenden Erzählung und den detaillierten Beobachtungen liegen. Dass welche Mühen die Figuren hier auf sich nehmen und was sie dabei erdulden müssen stellenweise unvorstellbar wütend macht, wird nur von dem starken Porträt dieser jungen Frauen übertroffen. Dies ist einer der besten Filme des Jahres. Es macht ihn nicht einfacher.