Entgleist [2005]

Wertung: 4.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 18. März 2006
Genre: Thriller / Drama

Originaltitel: Derailed
Laufzeit: 107 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 2005
FSK-Freigabe: ab 16 Jahren

Regie: Mikael Håfström
Musik: Ed Shearmur
Darsteller: Clive Owen, Jennifer Aniston, Vincent Cassel, Melissa George, Addison Timlin, RZA, Xzibit, Giancarlo Esposito, Richard Leaf, William Armstrong, Tom Conti, Rachel Blake, Sandra Bee


Kurzinhalt:
Es scheint, als würde der Tag für den in einer Werbeagentur beschäftigten Charles Schine (Clive Owen) abgesehen davon, dass die attraktive Lucinda Harris (Jennifer Aniston) am Morgen seine Fahrkarte bezahlte, da er selbst kein Geld mehr in der Brieftasche hatte, immer schlimmer werden – nicht zuletzt, weil er einen seiner größten Kunden verliert. Als er auch am nächsten Tag Lucinda im Zug begegnet, kommt er erneut mit der ungewöhnlichen Frau ins Gespräch und wie sich bald herausstellt, können beide miteinander über Dinge sprechen, die ihre Ehepartner eher langweilen würden.
Schon wenig später erfindet Charles Ausreden bei seiner Frau Deanna (Melissa George) und seiner Tochter Amy (Addison Timlin), um mit Lucinda den Abend zu verbringen und trotz einigem Zögern suchen sie zusammen ein Hotel auf. Kurz nach ihrer Ankunft werden sie allerdings von dem Gangster LaRoche (Vincent Cassel) brutal überfallen, der auch ihre Brieftaschen an sich nimmt. Statt zur Polizei zu gehen, versuchen Lucinda und Charles den Überfall zu vertuschen und geraten damit in eine Zwickmühle, als sich LaRoche wenig später bei Charles meldet, um zusätzlich Geld zu erpressen. Doch damit nicht genug, scheint der unberechenbare Gangster auch gewillt, Gewalt gegen Charles Familie einzusetzen, sollte der Familienvater den Forderungen nicht nachkommen. Dem Kräftemessen mit dem organisierten Verbrecher ist Schine allerdings nicht gewachsen ...


Kritik:
Der mehrfach preisgekrönte schwedischen Filmemacher Mikael Håfström wagt mit Entgleist den Sprung nach Hollywood und kann in seinem auf einem James Siegel-Roman basierenden Debüt sogar auf eine Reihe prominenter Darsteller setzen, die aber nicht zu den größten Namen am Firmament der Traumfabrik gehören. Vor allem, dass Jennifer Aniston, durch ihren größten Erfolg mit der TV-Serie Friends [1994-2004] und den darauffolgenden Produktionen eher auf Komödien- und romantische Rollen festgelegt, sich in einem so ernsten Thriller wiederfindet, überrascht. Dabei ist sie trotz ihrer wichtigen Filmfigur über weite Strecken gar nicht zu sehen. Hauptsächlich lebt der Film von einem wirklich überraschenden Skript, dem es gelingt, eine ansich recht absurde Geschichte auf glaubhafte Weise und mit natürlichen Figuren spannend zu erzählen. Von den zahlreichen Storywendungen können dabei zwar nicht alle überzeugen, einige kommen aber selbst für Genrekenner unvermittelt.

Zu verdanken ist das Skriptautor Stuart Beattie, der bereits die Vorlage für den atmosphärischen Thriller Collateral [2004] lieferte; ihm gelingt es, die bekannte Formel der meisten Genrefilme – das einführen unbeschwerter Figuren, ihre Fehltritte und der Wandel ihrer Situation zu einem beklemmend real gewordenen Alptraum – abzuwandeln und um neue Zutaten zu erweitern.
So erlebt man als Zuschauer Hauptfigur Charles Schine nicht bei seinem besten Tag, der mit einer kleinen Ausnahme fortan auch immer schlimmer wird. Man darf die sich entwickelnde Beziehung zwischen ihm und Lucinda Harris beobachten und miterleben, wie die Chemie der beiden immer elektrisierendere Züge annimmt. Dabei verzichtet Beattie bewusst darauf, ihr Verhalten zu verurteilen und gibt auch Kritikern insofern keine Chance, die folgenden Ereignisse als "gerechte Strafe" der Ehebrecher abzutun. Stattdessen begleitet man die Entwicklung der Geschichte ebenso ohnmächtig, wie Schine selbst, der dem erstaunlich gut organisierten und berechnenden LaRoche in jeder Hinsicht unterlegen ist. So erhält sich der Autor die Sympathien für seine Figuren durchweg, zumal die (verständlichen) Abwehrversuche Schines mit einer minutiösen Taktik seines Widersachers zunichte gemacht werden.
Erst, wenn sich im letzten Drittel herauskristallisiert, worauf LaRoche abzielt, und wie sich die Geschichte entwickeln wird, ersetzt Beattie die immer wieder folgenden überraschenden Wendungen, die im ganz gewöhnlichen Tagesablauf des Opfers stattfinden, durch eine merklich actionlastigere Auflösung. Die mag im letztlichen Schluss etwas aufgesetzt wirken, ist aber nicht in dem Maße übertrieben, dass man als Zuseher den Bezug zu den Figuren verlieren würde.
Diese versieht der Autor mit intelligenten und natürlichen Dialogen und erzeugt damit ein plastisches Bild der (Familien)Welt von Charles Schine.

Gerade deswegen ist es bedauerlich, dass es Hauptdarsteller Clive Owen leider nicht gelingt, die Verzweiflung seiner Figur auch mimisch auszudrücken; die langsame Erkenntnis der Ausweglosigkeit der Situation und der nicht zuletzt auch physischen Überlegenheit seines Gegners, sowie der Schock nach dem brutalen Überfall, bringt Owen gut zur Geltung und enttäuscht in dem Sinne auch mit seiner Darstellung nicht wirklich – nur hätte man sich gerade in der zweiten Filmhälfte etwas mehr Emotionalität gewünscht, die beispielsweise Harrison Ford (der bereits in ähnlich angelegten Rollen spielte) sicher eingebracht hätte.
Überraschend stimmig sind hingegen seine Auftritte mit seiner Kollegin Jennifer Aniston, die gerade die vermissten Attribute ihres Kollegen auf der Leinwand auszuspielen vermag. So wirkt sie zu Beginn zwar zurückhaltend, aber doch geheimnisvoll, verkörpert wenig später die Rolle des Opfers auf eine sehr beklemmde und realistische Art und Weise. Ihr Wandel ist so subtil wie überraschend und die Chemie, die sie mit Owen von der ersten Minute an aufbaut, wirkt beeindruckend natürlich.
Eine wirklich gute Darbietung zeigt auch die aus Alias – Die Agentin [2001-2006] bekannte Melissa George, die aber erstaunlich wenig zu tun hat. Auch Addison Timlin, für die dies das erste große Engagement darstellt, leistet sehr gute Arbeit, obgleich sie eine schwierige Rolle zu meistern hat.
Als Bösewicht erstaunlich beängstigend ist der Franzose Vincent Cassel besetzt, der nicht zuletzt durch seine Rolle im kontrovers-grafischen Drama Irreversibel [2002] international für Aufsehen sorgte. Seit fünfzehn Jahren ist der Darsteller in seiner Heimat schon regelmäßig in Filmproduktionen zu sehen und inzwischen auch international öfter vertreten – sieht man sich seine überzeugende Darbietung in Entgleist an, verwundert das nicht, er zählt zu den körperlich wie psychisch Furcht einflößendsten Filmgegnern der letzten Zeit und wird allenfalls am Schluss durch das Drehbuch seiner Präsenz etwas beraubt.
Auch die beiden Musiker RZA und Xzibit liefern gute Arbeit ab, werden aber beide nicht übermäßig gefordert. Sein gewohntes Charisma verströmt hingegen Giancarlo Esposito (Malcolm X [1992]) bei seinem Kurzauftritt, der aber ebenso wenig in den Mittelpunkt gerückt wird.
Der Cast ist überraschend vielschichtig und doch sehr abwechslungsreich zusammen gestellt und sorgt durchweg für eine gelungene Atmosphäre, die auch die zahlreichen Twists der Geschichte problemlos trägt.

Handwerklich gibt sich Regisseur Mikael Håfström keine Blöße und kleidet zusammen mit Kameramann Peter Biziou (Die Truman Show [1998], Untreu [2002]) seinen düsteren Thriller in sehr schicke Bilder, die durch den sehr guten Schnitt von Peter Boyle (oscarnominiert für The Hours - Von Ewigkeit zu Ewigkeit [2002]) auch ein ansprechendes Erzähltempo verliehen bekommen.
Die Optik kommt dabei erfreulicherweise ohne technische Spielereien aus und hüllt Entgleist in beinahe schon klassische Einstellungen, die aber stets auf die Figuren zugeschnitten sind und ihnen doch genügend Freiraum für ihr Schauspiel lassen. Gleichzeitig wirkt die Farbgebung mit den dezent eingesetzten warmen und kalten Tönen, sowie dem unverwechselbaren und gelungen dargebrachten Herbst-/Winter-Flair der Umgebung der Geschichte außerdem zuträglich.
Kamera und Schnitt harmonieren sehr gut miteinander und verleihen Håfströms Hollywood-Debüt eine gelungene Bildersprache, die aber nie aufdringlich geraten ist, sondern sich dezent im Hintergrund hält und die Story in den Mittelpunkt rückt.

Auch die Musik des vielseitigen Komponisten Ed Shearmur (Sky Captain and the World of Tomorrow [2004]) gibt sich vollkommen anders, als man erwarten würde; statt eines ruhigen, dezenten orchestralen Scores wartet er mit elektronischen, sphärischen Klängen auf, wiederkehrenden Elementen und basslastigen Beats. Der Score erinnert damit ein wenig an die musikalische Untermalung des Thriller-Dramas Heat [1995], ohne aber einen derart tiefen Eindruck zu hinterlassen. Auch Ähnlichkeiten mit dem ebenfalls ungewöhnlichen, aber passenden Score zu Spurwechsel [2002] sind nicht von der Hand zu weisen.
Für Interessenten allerdings enttäuschend: Der Soundtrack enthält lediglich zwei instrumentale Lieder des Scores. Darauf finden sich aber gesungene Lieder und selbst im Film wirken die Hip-Hop-Einlagen erstaunlicherweise nicht störend, sondern passen gut zum Look von Entgleist.

Von mahnenden Charakterisierungen wie beispielsweise im Kultfilm Eine verhängnisvolle Affäre [1987] ist in Entgleist zwar nichts zu sehen, allerdings zielen die Macher hier auch auf ganz andere Elemente der Geschichte ab – dass dabei über den eigentlichen Storyverlauf in den Trailern und TV-Spots nichts zu sehen war, ist ein Glück für den Zuschauer, der sich der wirklich einfallsreichen, wenn auch stellenweise weit her geholten unvoreingenommen hingeben sollte.
Dann unterhält zu Beginn die immer spürbarer werdende Anziehung zwischen Clive Owen und Jennifer Aniston, ehe der Thriller nach einer überraschend ruhigen Exposition seinen Lauf nimmt. Was folgt ist mitunter wirklich überraschend und fesselt auch bis zum Schluss – was dem Film allerdings fehlt, ist eine spannendere Ausgangslage und eine bessere Darbietung einer verzweifelten Hauptfigur, der Owen schlicht zu unterkühlt wirkt. Davon abgesehen, gibt es an Derailed (so der Originaltitel) nichts zu bemängeln.


Fazit:
Immer wieder gibt es filmische Beweise dafür, dass sich Hollywood gelegentlich dazu durchringen kann, ernste Unterhaltung für Erwachsene zu produzieren; an ein jugendliches Publikum richtet sich das US-Debüt von Mikael Håfström ausdrücklich nicht. Hierfür wartet der Film mit zu wenigen großen Stars, zu wenig Humor und vor allem einem erstaunlich ruhigen Erzähltempo auf, das erst ab der Hälfte an Fahrt gewinnt.
Eben das sollte man an Entgleist aber schätzen, immerhin liefert das einfallsreiche Drehbuch die Grundlage für einen sehr soliden, überraschenden und wirklich gut gespielten Thriller, dessen Dramaelement zwar in den Hintergrund gerückt wird, der aber dennoch durch die überzeugend eingeführten Figuren plastisch bleibt und die Protagonisten davor bewahrt, in ihren Handlungen unnahbar zu werden. Dank der prickelnden Chemie zwischen Clive Owen und Jennifer Aniston und der sehr schicken Optik kann man auch über die teils unglaubwürdigen Entwicklungen und einige Löcher in der Handlung hinweg blicken – tief schürfende Erkenntnisse zum Thema Seitensprung sollte man allerdings nicht erwarten.