Der unsichtbare Gast [2016]

Wertung: 4.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 18. Juni 2017
Genre: Krimi

Originaltitel: Contratiempo
Laufzeit: 106 min.
Produktionsland: Spanien
Produktionsjahr: 2016
FSK-Freigabe: ab 16 Jahren

Regie: Oriol Paulo
Musik: Fernando Velázquez
Darsteller: Mario Casas, Ana Wagener, José Coronado, Bárbara Lennie, Francesc Orella, Paco Tous, David Selvas, Iñigo Gastesi, San Yélamos, Manel Dueso


Kurzinhalt:

Im Auftrag seines Anwalts Félix (Francesc Orella) soll die erfahrene Spezialistin Virginia Goodman (Ana Wagener) den wegen Mordes angeklagten Adrián Doria (Mario Casas) auf den kommenden Prozess vorbereiten. Adrián ist angeklagt, seine Geliebte Laura (Bárbara Lennie) ermordet zu haben. Da sie beide allein in einem verschlossenen Hotelzimmer ohne weitere Fluchtmöglichkeit von der Polizei entdeckt worden waren, gibt es keine weiteren Verdächtigen, obwohl Adrián seine Unschuld beteuert. So erzählt er Virginia seine Geschichte, die Monate zuvor beginnt, als Adrián und Laura in einen Autounfall verwickelt waren und eine verhängnisvolle Entscheidung getroffen haben ...


Kritik:
Ein zufälliges Unglück ist der Ausgangspunkt der Geschichte von Oriol Paulos düster erzähltem Krimi Der unsichtbare Gast. Dabei beginnt der Filmemacher mit einem Mord, der Monate später geschieht. Wie in vielen Filmen dieser Art wird das nach außen hin makellose Leben der Reichen und Schönen Stück für Stück entblättert und offenbart erschreckende Abgründe. Die Ideen hierin sind nicht neu, aber tadellos dargebracht und mit einem Gespür für das Geschichtenerzählen präsentiert, dass viele Zuseher bis zum Schluss rätseln werden, was passiert ist.

Im Zentrum steht der erfolgreiche Geschäftsmann Adrián Doria. Er wird verdächtigt, seine Geliebte ermordet zu haben und da sie in einem von innen verschlossenen Hotelzimmer ohne Fluchtmöglichkeiten oder dritte Personen gefunden wurden, ist die Ausgangslage ziemlich eindeutig. In Vorbereitung auf den Prozess erzählt er Virginia Goodman, die ihn auf die Verhandlung vorbereiten soll, was geschehen ist. Oder zumindest seine Version davon. Danach wurden er und Laura in einen Wildunfall verwickelt, bei dem ein anderer Autofahrer starb. Doch anstatt das Richtige zu tun, treffen die beiden eine verheerende Entscheidung und wenige Monate später ist Laura tot.

Auch wenn Virginia Goodman für seine Verteidigung arbeitet, durch ihre Nachfragen, die Adrián im Rahmen der Gerichtsverhandlungen mit Sicherheit erwarten würden, ist er gezwungen, seine Aussage anzupassen und präsentiert damit mehr als nur einmal verschiedene Versionen derselben Ereignisse. Auf diese Weise trägt Regisseur Paulo Schicht für Schicht dessen ab und legt frei, was tatsächlich geschehen ist. Die Erzählweise von Der unsichtbare Gast – der Titel bezieht sich auf die dritte Person, die sich Adriáns Aussage nach im Hotelzimmer befunden hat, in dem Laura ermordet wurde – erinnert nicht von ungefähr an Altmeister Alfred Hitchcock mit einem beinahe schon kammerspielartigen Ambiente in dem Gespräch zwischen Doria und Goodman, das den Film einrahmt, sowie dem abgelegenen Hotel, in dem Laura den Tod fand.

Auch verschiebt der Filmemacher im Laufe des Films die Sympathien unter den Figuren. War Adrián seiner Aussage nach zu Beginn passiv bei der folgenschweren Entscheidung, während Laura für den Erhalt ihres bisherigen Lebens bereit war, alles zu tun, bröckelt diese Fassade zusehends nach den von Virginia vorgebrachten Theorien über den möglichen Ablauf der Ereignisse. Das geht so weit, bis 15 Minuten vor Ende nicht mehr klar ist, wem man was glauben soll.
Dieser Aspekt bei Der unsichtbare Gast ist beeindruckend gut gelungen, was auch an den tollen Darstellerleistungen von Mario Casas als Adrián und Bárbara Lennie als Laura liegt. Tauschen sie im Lauf der Erzählung sprichwörtlich die Rollen ihrer Beteiligung, kommen nie Zweifel an der Plausibilität des Gezeigten auf. Ebenso wenig an der tragischen Rolle des von José Coronado fantastisch verkörperten Tomás, der auf tragisch persönliche Weise mit den beiden verbunden ist.

So entfaltet der ruhig dargebrachte Krimi auf Grund der Undurchschaubarkeit seiner Figuren einen ungeheuren Reiz und ist gleichzeitig in gelungenen Bildern eingefangen. Aber trotz der stimmungsvoll erzählten Geschichte, bringt Oriol Paulos Film kaum neue Ideen mit sich. Fans des Genres werden sich deshalb auch nicht sehr schwer tun, den wahren Hintergrund des Vorgesprächs zu erahnen. Das heißt nicht, dass Der unsichtbare Gast kein sehenswerter Krimi ist, ganz im Gegenteil. Nur da die Verbrechen bereits geschehen sind, steht die Spannung nicht derart im Vordergrund wie die Aufdeckung der Hintergründe.


Fazit:
Wie objektiv ist die Aussage einer Person, die wegen Mordes angeklagt ist? Auch wenn die Verhandlung nicht das Thema des Films ist, versetzt Regisseur Oriol Paulo das Publikum an Stelle der Geschworenen, die die Aussagen von Adrián Doria bewerten sollen. Ist die Aussage, er sei selbst das Opfer – und gleich in doppelter Hinsicht – glaubhaft, wenn man bedenkt, dass er ein erfolgreicher Geschäftsmann ist, der sich seinen Stand selbst erarbeitet hat? Der unsichtbare Gast spielt mit den Sympathien und das dank einer erstklassigen Besetzung auf eine eindrucksvolle Art und Weise. Auch die Inszenierung ist mehr als nur gelungen. Doch werden für Viele die Wendungen im letzten Drittel nicht wirklich überraschend sein, dafür verläuft der Krimi zu sehr in bekannten Bahnen. Deshalb sind die Haken, die die Story hier schlägt nicht weniger glaubwürdig, nur nicht so unvorhersehbar, wie man vermuten würde. Doch das macht Oriol Paulos Krimi zum Glück nicht weniger sehenswert.