Das Lehrerzimmer [2023]

Wertung: 5.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 12. März 2023
Genre: Drama

Laufzeit: 98 min.
Produktionsland: Deutschland
Produktionsjahr: 2023
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: İlker Çatak
Musik: Marvin Miller
Besetzung: Leonie Benesch, Leonard Stettnisch, Eva Löbau, Michael Klammer, Anne-Kathrin Gummich, Kathrin Wehlisch, Sarah Bauerett, Rafael Stachowiak, Uygar Tamer, Özgür Karadeniz


Kurzinhalt:

Auf den ersten Blick schein am Emmy Noether Gymnasium alles so zu sein, wie man es sich an einer Schule vorstellt. Doch unter der Oberfläche brodelt es. Seit geraumer Zeit wird an der Schule gestohlen, sowohl Geld als auch Gegenstände. Als einer ihrer Schüler verdächtigt wird, findet sich die erst seit Kurzem an der Schule unterrichtende Lehrerin Carla Nowak (Leonie Benesch) zwischen den Stühlen wieder. Gegenüber dem Lehrerkollegium äußert sie ihre Bedenken gegen ein Vorgehen der Lehrkräfte, das an durchgängige Überwachung erinnert. Als sie selbst Maßnahmen ergreift, gerät eine erwachsene Person in Verdacht. Auch Lehrer wie Herr Liebenwerda (Michael Klammer) empfinden das als zu übergriffig, Schulleiterin Dr. Böhm (Anne-Kathrin Gummich) hingegen will entsprechend der Null-Toleranz-Politik der Schule rigoros handeln. Als der hochintelligente Schüler Oskar (Leonard Stettnisch) von seinen Mitschülern gemobbt wird, weil seine ebenfalls an der Schule beschäftigte Mutter Frau Kuhn (Eva Löbau) an den Diebstählen beteiligt sein soll, dreht er den Spieß um und Carla sieht sich urplötzlich einer geballten Front aus Schülerinnen wie Schülern, Eltern und Lehrenden gegenüber …


Kritik:
İlker Çataks Das Lehrerzimmer zeigt an einer idealistischen, jungen Hauptfigur, wie diese in der Folge einer Entscheidung, mit der sie Gutes bewirken wollte, immer weiter aufgerieben wird. Gleichzeitig entblättert das Drama den (Alb-) Traumberuf der Lehrkraft, die sich im schlimmsten Fall in einem System wiederfindet, das so starr ist wie die Kinder gnadenlos. Dem beizuwohnen, ist abwechselnd beklemmend und beunruhigend. Und einer der sehenswertesten Filme des bisherigen Kinojahres.

Dabei wirft Das Lehrerzimmer sein Publikum vergleichbar unvorbereitet ins kalte Wasser, wie sich Lehrkräfte unmittelbar nach ihrem Studium fühlen müssen, wenn sie sich zum ersten Mal an vorderster Klassenfront alleine wiederfinden. Lehrerin Carla Nowak unterrichtet seit Halbjahresbeginn die siebte Klasse des Emmy Noether Gymnasiums und nimmt an einem Gespräch teil, das zwei erfahrenere Kollegen mit der Sprecherin und dem Sprecher von Carlas Klasse führen. Offenbar wird an der Schule gestohlen, Geld und Material. Regelmäßig, sowohl von Kindern als auch von Lehrkräften. Die Schülerin und der Schüler werden gebeten, sich zu äußern, ob sie etwas wissen. Dabei müssen sie nichts sagen, der Lehrer Herr Liebenwerda zeigt mit dem Stift vielmehr auf eine Namensliste und es würde ausreichen, wenn die Kinder nicken oder den Kopf schütteln – Denunziation in Reinform. Verdächtigt wird ein Schüler mit türkischem Hintergrund, der mehr Bargeld als gewöhnlich in seinem Geldbeutel hat. Dessen Inhalt sollen die Kinder „freiwillig“ offenlegen, denn wir nichts zu verbergen hat …. Im Gespräch mit der Schulleiterin stellen die Eltern des Schülers klar, dass ihr Sohn nicht stiehlt. Carla glaubt ihnen, während die anderen Lehrerinnen und Lehrer der Auffassung sind, dass man weder Eltern noch Kindern etwas glauben könne. Dabei beobachtet Carla selbst, dass Kolleginnen teils nicht nur Geld in die Kaffeekasse hineinlegen, sondern auch herausnehmen.

Die Stimmung an der Schule insgesamt und im Lehrerzimmer selbst ist geprägt von oberflächlicher Harmonie und von einem tiefliegenden Misstrauen. Von einem Gegen- statt Miteinander. Mit guten Absichten, eben weil sie nicht die Kinder verdächtigt, nimmt Carla während einer Unterrichtsstunde mit dem Laptop ein Video des Lehrerzimmers auf. Darauf ist zu sehen, wie eine Person in Carlas Jackentasche greift, aus der Geld entwendet wird. Nur eine Person mit Zugang zum Zimmer trägt eine Bluse mit dem Muster, das auf dem Video zu sehen ist. Doch damit nimmt das Unglück erst seinen Lauf, denn obwohl die Rektorin die Bilder im Video unmissverständlich deutet, empfinden es Kolleginnen und Kollegen als übergriffig, dass sie im Lehrerzimmer gefilmt werden, selbst wenn bei den Kindern für sie keine Überwachungsmaßnahme zu viel wäre. Schlimmer noch, der Sohn der verdächtigen Person gerät nach Bekanntwerden des Vorfalls ins Visier seiner Mitschüler und dreht den Spieß gegen Carla um. Scheint Carla Nowak bei den Schülerinnen und Schülern zumindest anfangs noch beliebt, wirkt ihr Verhältnis zu den übrigen Lehrkräften – wenigstens mit Ausnahme der Vertrauenslehrerin – durchweg distanziert. Doch auch die Harmonie zu den Kindern ist hauchdünn, der Umgang mancher Schüler mit ihr respektlos und schwierig, wie auch die Sympathie der Kinder untereinander von einem Moment auf den anderen umschwenkt.

Der Höhepunkt dieser konstanten Zuspitzung ist ein Elternabend, bei dem die konfliktgeladene Stimmung mit Händen zu greifen ist und bei dem Carla mehr als zuvor zwischen den Stühlen steht. Denn selbst wenn sie die Handlungen des Lehrerkollegiums nicht gutheißen mag, sie kann sich dennoch nicht offen dagegen stellen. So wird Carla, die sich als Fürsprecherinnen der Kinder sieht, von Kindern wie Eltern bedrängt. Um die beengte Situation, in der sich Carla wiederfindet, auch bildlich zum Ausdruck zu bringen, wählt Regisseur İlker Çatak für Das Lehrerzimmer ein heutzutage ungewohntes Bildformat. Anstatt leinwandfüllend, wird das Geschehen im 4:3-Format präsentiert. Das überdies in Bildern, die wohl ausgesucht sind, dicht an den Figuren und ihnen dennoch genügend Raum geben, sich zu entfalten. Die Optik ist erstklassig und fängt jedes noch so leichte Zögern, jedes Zweifeln im Blick der Beteiligten ein. Zu sehen, wie der Druck auf Carla wächst, die Situation immer weiter eskaliert, ist so beunruhigend wie erschreckend. Daher es ist merklich schade, dass das Drehbuch trotz seiner pointierten Dialoge und des tollen Aufbaus für die eigentliche Geschichte um Carla Nowak keinen richtigen Abschluss findet. Vielleicht spiegelt das aber den ewig aufs neue ausgetragenen Kampf des Lehrkörpers, der Jahr um Jahr antritt, sich nicht unterkriegen zu lassen, letztlich am besten wider.


Fazit:
Sieht man die so ambitionierte wie mit ihren Schülerinnen und Schülern respektvoll umgehende Lehrerin Carla Nowak zu Beginn, wie sie ein Begrüßungsritual in der Klasse etabliert hat, sie die Kinder an Entscheidungsprozessen teilhaben lässt, dann sieht es so aus, als wäre dies ein Musterbeispiel moderner Pädagogik. Doch dann trägt Filmemacher İlker Çatak Schicht um Schicht ab, deckt auf, wie sehr Carla zwischen den Fronten gefangen ist und wie der Druck ihr zusetzt. Die Dialoge sind aus dem Leben gegriffen und dennoch schneidend präzise, die Eskalation zu beobachten zunehmend erschreckend. Leonie Benesch ist eine Naturgewalt, ihre Darbietung herausragend wie preiswürdig bei einer durchweg erstklassigen Besetzung, wobei auch die Kinderdarstellerinnen und -darsteller besser nicht zusammengestellt sein könnten. Das Lehrerzimmer ist ein im Verlauf stetig beunruhigender werdendes, fantastisch umgesetztes Drama um einen Traum- wie Albtraumberuf, das seine Figuren mit einer beeindruckenden Intensität blanklegt. Dass der Film keinen richtigen Abschluss zu finden scheint, sorgt nur dafür, dass einen das Gesehene noch länger nicht loslässt.