'71: Hinter feindlichen Linien [2014]

Wertung: 4 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 22. September 2015
Genre: Thriller / Drama / Action

Originaltitel: '71
Laufzeit: 99 min.
Produktionsland: Großbritannien
Produktionsjahr: 2014
FSK-Freigabe: ab 16 Jahren

Regie: Yann Demange
Musik: David Holmes
Darsteller: Jack O'Connell, David Wilmot, Martin McCann, Sam Reid, Killian Scott, Barry Keoghan, Richard Dormer, Charlie Murphy, Jack Lowden, Sean Harris, Paul Anderson


Kurzinhalt:

Als junger Rekrut wird Gary Hook (Jack O'Connell) 1971 nach Belfast beordert. Dort soll die britische Armee die örtliche Polizei unterstützen, die der zunehmend gewalttätigen Lage nicht mehr Herr wird. Bei seinem ersten Einsatz gerät die Situation außer Kontrolle und kurz darauf befindet sich Gary auf der Flucht vor dem IRA-Mitglied Haggerty (Martin McCann) und seinen Mitstreitern. Der ältere IRA-Kämpfer Boyle (David Wilmot) würde die Situation weniger radikal lösen, weshalb er selbst ins Visier von Haggerty gerät. Nach einer Bombenexplosion wird Gary schwer verletzt von Eamon (Richard Dormer) und seiner Tochter Brigid (Charlie Murphy) gefunden, die ihn gegen besseres Wissen mit nach Hause nehmen. Als sie Boyle davon erzählen, ahnen sie nicht, in welcher Gefahr sie alle schweben ...


Kritik:
'71: Hinter feindlichen Linien ist ein Film mit zwei erschütternden Sequenzen und einer schweißtreibenden Verfolgungsjagd durch die Hinterhöfe Belfasts im Jahr 1971. Doch das Pulverfass, auf dem die Stadt sitzt und das sich in einer Kaskade von Gewalt entlädt, beleuchtet Regisseur Yann Demange nur am Rande. Dafür stellt er mehr Figuren vor, als der Film in seiner kurzen Laufzeit unterbringen kann und selbst über diejenigen, die er in den Mittelpunkt stellt, erfährt man nur wenig.

Getragen wird der Film von einem schweigsamen Jack O'Connell, aus dessen Sicht ein Großteil des Geschehens gezeigt wird. Er spielt Gary Hook, einen jungen britischen Soldaten, der nach Belfast abkommandiert wird, um dort die örtliche Polizei zu unterstützen. In dem Straßenzug, der zwischen dem Gebiet der Protestanten und der Katholiken liegt, führt die Polizei eine Hausdurchsuchung bei vermeintlichen katholischen Terroristen durch. Hooks Einheit begleitet den Einsatz, findet sich aber urplötzlich zwischen den Fronten wieder und mit einer aufgebrachten, gewaltbereiten Bevölkerung konfrontiert. Als IRA-Mitglieder Hooks Kameraden auf offener Straße erschießen, ist die Situation längst eskaliert. Hook wird von seiner Einheit getrennt und flieht.

Dass sich '71: Hinter feindlichen Linien mehr an ein britisches Publikum richtet, erkennt man daran, dass der Film kein Wort über den gezeigten Konflikt verliert. Keine Texttafel leitet das Geschehen ein oder rundet die Erzählung am Ende ab. Entweder man findet sich zwischen den verschiedenen Gruppen zurecht, oder man ist als Zuschauer verloren. Das wird dann umso schlimmer, wenn der Film unterschiedliche IRA-Fraktionen vorstellt, die sich gegenseitig eines Bombenanschlags beschuldigen, der tatsächlich von einer Einheit der britischen Armee verübt wurde. Wie die jeweiligen Anführer heißen, wird zwar gesagt, aber man verbringt nicht genug Zeit mit den Figuren, um sich ihre Namen auch zu merken.

Über die Hintergründe der Charaktere, ihren Werdegang – insbesondere beim jungen Sean – erfährt man nichts. Die vielen verschiedenen Rollen, die gerade in der zweiten Filmhälfte in Bezug auf die politischen Verwicklungen der Ereignisse wichtig werden, sind zu wenig ausgearbeitet, um die Zusammenhänge beim ersten Ansehen verstehen zu können. Dafür glänzt '71 mit einer beängstigend authentischen Atmosphäre dieser zerrissenen Stadt und ihrer Einwohner.

Hooks Flucht zählt zu den schnellsten Sequenzen, die in dieser Art seit langem auf Film gebannt wurden. Auch wenn es Regisseur Demange übertreibt, was die wackelige Inszenierung angeht, sieht man Gary durch die engen Gassen rennen, auch wenn er längst schon außer Atem ist, steigt auch der Puls beim Publikum. Hat er sich versteckt, trifft er wenig später auf einen Jungen, der ihm helfen will. Wird Gary Zeuge der verheerenden Bombenexplosion, folgt die einprägsamste und erschütterndste Sequenz des Films, die noch lange nachwirkt.

Es ist bedauerlich, dass diese sehr sehenswerten Passagen nicht in eine durchgängiger erzählte Geschichte eingebettet sind. Nicht nur, dass '71 länger erscheint, als er ist, die verschachtelten Zusammenhänge sind nur deshalb verschachtelt, weil der Film zu wenig Hintergrund präsentiert. Sowohl in Bezug auf die Situation, als auch hinsichtlich der Charaktere. Bedenkt man, dass dies Yann Demanges erster Spielfilm ist und sieht man sich an, was ihm gelingt und wie es ihm gelingt, darf man gespannt sein, was er als nächstes präsentiert.


Fazit:
Vielleicht ist es Teil des Konzepts, dass man die Hintergründe des gewaltsamen Konflikts in Nordirland nicht nochmals thematisiert. Vielleicht soll man als Zuseher selbst entscheiden, wer die Guten und wer die Bösen sind – nur um festzustellen, dass es beides auf beiden Seiten gibt. Doch gerade in Hinblick auf die unterschiedlichen IRA-Splittergruppen, die ihre Ziele mit unterschiedlichen Mitteln verfolgen, wäre es für viele, insbesondere junge Zuseher hilfreich, gewisse Zusammenhänge zu erörtern und auch die Nebencharaktere stärker auszubauen.
So gerät die sehr fordernde und sehenswerte Leistung von Jack O'Connell als Gary Hook beinahe in den Hintergrund. Aus seiner Sicht erlebt man die Geschehnisse in '71: Hinter feindlichen Linien, die zum Teil mehr an die Nerven gehen, als man erwarten würde. Einige Momente sind nicht nur sehenswert, sondern grausam authentisch eingefangen. Doch dafür zieht sich die Erzählung und wirkt am Ende, als wären manche Storyfäden nicht zu Ende gesponnen. Fans von anspruchsvollen, beklemmenden Thrillern vor historischem Hintergrund, werden finden, was sie suchen. Für ein breites Publikum ist das zu schwere Kost.