Truman Capote: "Kaltblütig" [1966]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 13. April 2005
Autor: Truman Capote

Genre: Dokumentation / Krimi / Drama

Originaltitel: In Cold Blood
Originalsprache: Englisch
Gelesen in: Englisch
Ausgabe: Taschenbuch
Länge: 336 Seiten
Erstveröffentlichungsland: USA
Erstveröffentlichungsjahr: 1965
Erstveröffentlichung in Deutschland: 1966
ISBN-Nr. (gelesene Ausgabe): 0-349-10491-3


Kurzinhalt:
Es war der 15. November 1959 als vier Mitglieder der sechsköpfigen Farmerfamilie Clutter, darunter die Eltern Herbert und Bonnie, sowie die zwei der insgesamt vier Kinder Nancy und Kenyon in der kleinen Gemeinde Holcomb, Kansas, grausam ermordet wurden. Während die Gemeinde unter Schock stand, immerhin waren die Clutters eine respektierte und hoch angesehene Familie gewesen, stand die Polizei vor einem Rätsel.
Es wurde ein Sonderkommando eingesetzt, um den Tätern auf die Spur zu kommen und es dauerte nur wenige Wochen, bis Dick Hickock und Perry Smith gefasst und dank Indizienbeweisen und einem Geständnis des vierfachen Mordes angeklagt wurden. Beide wurden zum Tode verurteilt, ehe sie ihre Reise in den Mühlen der Justiz begannen. Sich gegenseitig beschuldigend dauerte es mehrere Jahre, bis am 14. April 1965 Richad Eugene Hickock und Perry Edward Smith hingerichtet wurden – sie starben durch Erhängen um 0:41 Uhr, beziehungsweise um 1:19 Uhr.
Dieser Roman ist die Rekonstruktion ihres Verbrechens, sowie der Ermittlungen und ihres Gerichtsverfahrens.


Kritik:
Am 30. September 1924 wurde Truman Streckfus Persons in New Orleans geboren und wusste schon sieben Jahre später, dass er Schriftsteller werden wollte. 1933 zog er mit seiner Mutter und seinem Stiefvater Joseph Capote zusammen, der ihn nicht nur zwei Jahre später adoptierte, sondern auch Truman Garcia Capote nennen ließ. Im Alter von 18 Jahren begann er seine Arbeit beim "The New Yorker" Magazin, wurde 1945 berühmt, als seine Erzählungen "Wie ich die Dinge sehe", "Baum der Nacht" und "Der silberne Krug" in einigen Zeitschriften veröffentlicht wurden, und erhielt sowohl für Miriam [1946] als auch für Schließ die Tür [1948] bekannte Literaturpreise. Mit Andere Stimmen, andere Räume [1948] gelang ihm ein internationaler Bestseller und auch Die Grasharfe [1951] war sehr erfolgreich – diesen Roman adaptierte er selbst zum Bühnenstück. Sein bekanntestes Werk in den 1950er Jahren ist zweifelsohne seine Novelle Frühstück bei Tiffany [1958], die auch als Filmumsetzung sehr erfolgreich war.
Ein dreihundert Worte langer Artikel der "New York Times" im November 1959 machte Truman Capote schließlich auf den vierfachen Mord an einer Familie in Kansas aufmerksam. Von der Geschichte fasziniert, begann Capote zusammen mit seiner Jugendfreundin Nelle Haper Lee (deren einzig erfolgreiches Buch Wer die Nachtigall stört [1960] gewesen ist) die Recherchen im ländlichen Kansas. Diese dauerten sechs Jahre. Er verarbeitete die Recherchen um die Morde und die in Gewahrsam befindlichen Verdächtigen in seinem Buch Kaltblütig [1966], das zuerst in "The New Yorker" veröffentlicht wurde und wenig später als Roman aufgelegt wurde. Dessen weltweiter Erfolg machte ihn bekannter als je zuvor.
Doch dieser Erfolg hinterließ seine Spuren: Erfolglose Drehbuchversuche und seine Begleitung der Rolling Stones bei einer Tournee durch die USA brachten ihn schließlich zum Alkohol und den Drogen. Es folgten Nervenzusammenbrüche und Aufenthalte in Gefängnissen, ehe 1975 das erste Kapitel seines angekündigten Pamphlets Erhörte Gebete erschien, in dem er mit den persönlichsten Geheimnissen der High Society abrechnete – angeblich führte dies unter anderem auch zum Selbstmord der Millionärswitwe Ann Woodward. Capote wurde verstoßen, sein Werk beraubte ihn sämtlicher Freundschaften und trieb ihn nur weiter in Depressionen und Exzesse. Nachdem er in einigen Kliniken gewesen war, veröffentlichte er Musik für Chamäleons [1981], ehe er am 25. August 1984 in Los Angeles an einer Überdosis Tabletten verstarb. Das unvollendete Erhörte Gebete erschien schließlich 1987, ein Jahr später gefolgt von Gerald Clarkes Biografie über Truman Capote, die er selbst autorisiert hatte.

Bei Kaltblütig von einem Kriminalroman zu sprechen ist ansich schon ein vollkommen falscher Ansatz und alle interessierten Leser, denen die Geschichte wie ein Thriller vorkommen mag, sollten bedenken, dass Truman Capote kein fiktives Werk zusammen stellte. Vielmehr stellt sein Buch ein Portrait jener Morde dar, eine Zeichnung dessen, was sich vermutlich in jenem Haus zugetragen hat, an jenem 15. November 1959. Dabei verzichtet Capote darauf, den Mord zuerst im Detail zu schildern und überlässt es später dem Geständnis der beiden Täter, Licht ins Dunkel zu bringen; ob es sich dabei wirklich um den wahren Tathergang handelt, ist bis heute unklar. Immerhin haben sich Dick Hickock und Perry Smith bis zuletzt gegenseitig beschuldigt und auf ihre jeweils eigenen Geschichten beharrt.
Doch der Autor fängt in seinen 330 Seiten noch mehr ein, als die Psyche der Täter, die auch am Ende so undurchdringlich scheint, wie zu Beginn; vielmehr zeichnet er das Portrait der kleinen Stadt Holcomb, die vor über 45 Jahren durch ein so grausames Verbrechen erschüttert wurde, dass die Bewohner noch Jahre später einander heimtückisch ansahen und lange Zeit der Meinung waren, dass jemand aus der direkten Umgebung der Täter hätte sein müssen.
Und auch die Familie Clutter, Herbert, Bonnie, Kenyon und Nancy werden vorgestellt und charakterisiert – was im Endeffekt das Verbrechen selbst nur noch unverständlicher macht. Dass dabei der leitende Ermittler, Alvin Dewey, sehr kurz kommt, ist tragisch, dass die übrigen Ermittler Nye, Church und Duntz dafür so gut wie überhaupt nicht vorgestellt werden, unverständlich. Es wird damit und mit der genauen Rekonstruktion Capotes über die Handlungen der beiden Täter nach ihrem Verbrechen sehr schnell deutlich, wo sein Hauptaugenmerk liegt. Nun liegt es am Leser selbst, ob man sich auf diese Exkursion in den Geist eines Serientäters einlassen will.
Am Inhalt gibt es dabei nicht viel zu bemängeln, Capote bemüht sich sogar, seine Erzählung durch die Perspektivenwechsel, den langsamen Aufbau und die Vorstellung der Figuren für den Leser sehr interessant zu halten, wobei er sich verständlicherweise an die Tatsachen hält und das Buch deshalb im Verlauf so gut wie keine Spannung oder Dramaturgie besitzt. Und doch zieht das Tempo ab der Mitte und besonders im letzten Drittel merklich an, was auch daran liegt, dass man, anstatt Hickock und Smith nur zu begleiten, ihnen endlich sprichwörtlich gegenüber stehen darf, man sich mit ihren Entscheidungen und ihren Verhaltensmustern angesichts ihrer Gefangennahme konfrontiert sieht und letztlich erkennen muss, dass nur einer von beiden ansich nicht in der Lage gewesen wäre, die Morde zu begehen – doch zusammen brachten sie ein unmotiviertes, grausames Verbrechen zustande, das symptomatisch für viele folgende gewesen ist. Sehr deutlich wird eben jener Aspekt auch später, wenn die beiden Gefangenen ähnlichen Serientätern im Gefängnis begegnen.
Der Aufbau seines Buches ist dabei nicht immer chronologisch, sondern springt zwischen verschiedenen Zeitebenen, was zwar auf den ersten Blick etwas verwundern mag, letztlich aber zum strukturierten Inhalt beiträgt.

Wie lange sich Truman Capote mit den Tätern und Opfern beschäftigt hat, bemerkt man vor allem an den Figuren, die mit so vielen Details, Anekdoten und Charakteristika versehen sind, dass sie vor dem geistigen Auge des Lesers zum Leben erweckt werden. Von äußeren Zügen ganz zu schweigen, fängt der Autor die Stimmung, die Persönlichkeit der Figuren so gekonnt ein, wie man es nur in einer Biografie erwarten würde.
Schon gerade deshalb fällt es so schwer, das Verbrechen zu akzeptieren, das an der Familie Clutter begangen wurde. Angefangen bei Herbert Clutter, ein respektierter und angesehener Farmer, der auch über die Staatsgrenzen hinaus bekannt wurde und für seine Menschlichkeit und Gastfreundschaft auch gegenüber seinen Arbeitern bekannt war, über seine Frau Bonnie, die seit der Geburt ihrer Kinder an Depressionen litt, bis hin zur jungen Nancy und zu Kenyon, verwendet Capote viel Zeit darauf, die Figuren authentisch vorzustellen.
Diese Sorgfalt wird bei Richard Hickock und Perry Smith gar noch gesteigert und man bemerkt als Leser förmlich, wie sehr sich Capote bemühte, in ihrer Vergangenheit, ihrer Kindheit und ihren Erlebnissen eine Erklärung für ihr Verhalten zu finden – gleichzeitig kommt aber auch zum Ausdruck, welchen Eindruck die beiden Täter wohl auf die Unbeteiligten Zuschauer beim Prozess, auf die Wärter, Journalisten und auch die Polizisten gemacht haben müssen. Wie sie mit ihrem charmanten Auftreten, ihrer eloquenten Ausdrucksweise und Smith mit seiner künstlerischen Begabung die Menschen benebelt und sich selbst dabei doch gar nicht erkannt haben. Die Dynamik zwischen beiden Tätern ist ein Kernelement des Buches und zu beobachten, wie sie sich gegenseitig beeinflusst haben, ihre Kühnheit unter Beweis stellen wollten und den letzten Rest ihrer Menschlichkeit begruben, ist auf eine verstörende Art und Weise faszinierend.
Dass dabei die Polizei und auch die Hinterbliebenen der Clutter-Familie nur am Rande beleuchtet werden, ist hingegen bedauerlich, auch wenn Alvin Dewey zweifelsohne zum Zug kommt. Eine passendere Charakterisierung der vorgestellten Personen kann man jedoch nicht erwarten.

In sprachlicher Hinsicht überzeugt Truman Capote vor allem mit seiner genauen Beschreibung der ländlichen Eigenarten der Bewohner, sogar der Slang wird in der Aussprache und der Schreibweise, ja sogar den grammatikalischen Fehlern exzellent übernommen, so dass man sich die Stimmen der Figuren bildlich vorstellen kann. Wie in der Literatur nicht unüblich wechselt er dabei in Schlüsselmomenten von der Präteritums-Erzählform ins Präsens, was gleich mehrmals geschieht – dass er dies jedoch nicht in den wenigen Seiten der beschriebenen Exekution wählt, ist wiederum auf den ersten Blick unverständlich.
Auch im englischen Original liest sich das Buch relativ leicht, Wortwahl und Satzbau sind der Szenerie in Kansas angepasst und daher nicht wirklich schwierig oder anspruchsvoll. Einige ländliche Ausdrücke sowie Fachwörter sind verständlicherweise enthalten, diese sollten den gewillten Leser jedoch nicht vor dem Griff zur Originalausgabe abhalten.

Dass nicht nur Capote von den Verbrechen an der Clutter-Familie fasziniert war, sieht man nicht nur am weltweiten Erfolg des immerhin 40 Jahre alten Buches, sondern auch daran, dass die Geschichte schon mehrmals verfilmt wurde – Kaltblütig [1967] war mit Robert Blake in der Hauptrolle nicht nur ein bei Zuschauern und Kritikern anerkannter Film, sondern wurde auch für mehrere Oscars nominiert. Diese Umsetzung orientierte sich wie die TV-Verfilmung Kaltblütig [1996] stark an der Romanvorlage.
Wer nach dem Lesen des Buches der Meinung ist, es sei "unterhaltsam", hat nicht verstanden, worum es dem Autor ging – wer behauptet es sei "langweilig" liegt ebenso falsch. Als akkurate Rekonstruktion des Verbrechens an der Familie Clutter ist dem Autor ein hervorragendes Werk gelungen, das im selben Maße fasziniert wie (in Bezug auf die Psyche der Täter) abstößt. Für diejenigen, die sich in die Psyche zweier Mörder hinein versetzen lassen wollen, ist Kaltblütig bestens geeignet, aber auch wenn der Detailgrad der Brutalität ansich nicht sehr hoch ist, für schwache Nerven ist das Buch nicht gedacht.
Kaltblütig ist Nelle Harper Lee gewidmet.


Fazit:
Auf Kaltblütig aufmerksam geworden bin ich – das muss ich gestehen – erst durch die TV-Verfilmung aus dem Jahr 1996. Doch so lebensecht die beiden Täter damals von den außergewöhnlich guten Darstellern auch verkörpert gewesen sind, im Vergleich zu Truman Capotes Charakterisierung haben die Filmemacher nur an der Oberfläche gekratzt. Hat man sich einmal in den Roman eingelesen, die ersten 50 Seiten lang die Clutters kennen gelernt, um auch im Nachhinein immer mehr Details aus ihrem Leben zu erfahren, schockiert der Mord an dieser verständnisvollen und gutmütigen Familie. Was jedoch noch mehr beunruhigt ist die Tatsache, dass die beiden Täter die vier Morde nicht aus Rachsucht oder Gier begangen haben, sondern aus dem schieren Motiv, weil sie dazu in der Lage waren.
Wie Alvin Dewey und später auch der Autor Capote sieht man sich als Leser den Abgründen des menschlichen Charakters gegenüber und bekommt hier den Prototypen des immer häufiger auftretenden Serienmörders präsentiert. Wer dabei aber der Meinung ist, man könne hier gefahrlos in den Abgrund blicken, der irrt. Es mag sein, dass einen das Buch nicht beeinflussen wird, solche Taten zu begehen, doch dieser faszinierend-verstörende Blick in den Geist der Täter besitzt eine Sogwirkung, aus der sich eben die Beteiligten lange Zeit nicht mehr lösen konnten.
Für Interessenten ist Kaltblütig damit Pflichtlektüre, auch wenn sie eher schleppend beginnt und alles andere als leicht verdaulich ist. Wer darin aber einen Krimi mit Elementen eines Dramas vermutet, hat die Absicht des Autors nicht verstanden – hinter dem Buch verbirgt sich die Studie eines grausamen Verbrechens und der dafür verantwortlichen, sowie davon betroffenen Personen.