Alan Moore & Eddie Campbell: "From Hell" [1999]

Wertung: 4.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 26. September 2004
Autoren: Alan Moore & Eddie Campbell

Genre: Thriller / Horror / Fantasy

Originaltitel: From Hell
Originalsprache: Englisch
Gelesen in: Englisch
Ausgabe: Taschenbuch
Länge: 549 Seiten
Erstveröffentlichungsland: USA
Erstveröffentlichungsjahr: 1999
Erstveröffentlichung in Deutschland: 2002
ISBN-Nr. (gelesene Ausgabe): 0-861-66141-9


Kurzinhalt:
Im Armenviertel Whitechapel in London versuchen viele Frauen, sich mit Prostitution einen Lebensunterhalt zu verdienen. Doch während sie von der Polizei großteils in Ruhe gelassen werden, machen es ihnen Schutzgeldbanden schwer, das Nötige zu verdienen, um sich und im Zweifel ihre Kinder durch zu bringen. Als einige Prostituierte, darunter Polly Nicholl, Annie Chapman, Elizabeth Stride und Marie Kelly beschließen darum, ein Geheimnis, das sie über die Königsfamilie erfahren haben einzusetzen, und die Throninhaber zu erpressen.
Als das englische Königshaus davon erfährt, erteilen sie den Auftrag, diejenigen zu töten, die von dem Geheimnis wissen. Als Polly Nicholl ermordet und verstümmelt gefunden wird, ahnt noch niemand, dass vier weitere Opfer folgen werden. Während die Presse den namenlosen Täter als Jack the Ripper anpreist, versucht Detective Abberline, den Hintergründen der Whitechapel-Morde auf die Schliche zu kommen, dabei scheint es, als wüssten manche Vertreter der Justiz bereits Bescheid ...


Kritik:
Comics, so denkt man gemeinhin, sind etwas für Kinder und Jugendliche – und vielleicht auch junggebliebene Erwachsene. Zwar gibt es immer noch Ausnahmen, wie die bekannten, aus drei einzelnen Bildern bestehenden Comicstrips in Zeitungen, die sich eher an Erwachsene richten, doch ein Comicbuch ist ansich ja etwas für die jüngeren Leser. Wer von dieser Behauptung ausgeht und einen Blick in From Hell wirft, wird schnell erkennen, dass man selten so falsch gelegen hat. Autor Alan Moore und Zeichner Eddie Campbell schufen mit ihrem düsteren Comic ein Werk für Erwachsene, das für Jugendliche schon auf Grund des Inhalts, der Beschreibungen und der Zeichnungen, aber auch nicht auf Grund der Komplexität geeignet ist.
Ihr Gothic-Thriller widmet sich einer Figur, die interessanter und mysteriöser kaum sein könnte; zahlreiche Filme und Bücher gab es über die Figur des Jack the Ripper, jenen Frauenmörder, der im Sommer und Herbst 1888 London erzittern ließ, der (wie es nicht nur Zeitzeugen berichten) das 20. Jahrhundert einläutete, ein neue Dimension des Verbrechens kreierte und von einem Tag auf den anderen, so plötzlich wie er erschienen war, auch wieder verschwand.
Der Fall wurde von Scotland Yard zwar mit Nachdruck bearbeitet, aber bis auf wilde Theorien gab es bis zum Schluss keinen Schuldigen, und doch wurde nach dem bestialischen Mord seines letzten Opfers Marie Kelly der Fall von den Behörden so rasch zu den Akten gelegt, dass die Bevölkerung stutzig wurde. Logischerweise lässt der schnelle Abschluss der Ermittlungen nur eine Schlussfolgerung zu: Die Polizei kannte den Mörder, konnte ihn jedoch nicht verhaften und auch nicht bloßstellen. Kein Wunder, dass im Laufe der Jahre Gerüchte aufkamen, die Verbindungen zum Königshaus aufstellen und die Geheimhaltung von jener Seite aus erklären.
Bis heute ist der Whitechapel-Mörder nicht gefasst und die Historiker, die sich mit dem Thema beschäftigen haben sich auf einige wenige mögliche Szenarios geeinigt. Eines davon beschreibt Alan Moore in seinem Buch, stützt sich dabei auf jahrelange Recherchen und plausible Erklärungen – letztendlich bleibt es jedoch eine Theorie, wenn auch eine glaubhafte.

Und doch ergeben sich eben auf Grund der Tatsache, dass vieles aus dem Buch einen realen Hintergrund besitzt, einige nicht zu vernachlässigende dramaturgische Probleme, die schon zu Beginn des Comics offensichtlich werden. Nicht nur, dass der Leser in einen Strudel von Personen und Beziehungen geworfen wird, von denen nur versierte Ripper-Kundige bislang gehört haben, die Art und Weise der Szenenaneinanderreihung bereitet mit Sicherheit einigen Lesern Probleme. Ein einzelne Szene dauert gerade zu Beginn nur eine Seite, im Anschluss springt der Autor entweder zu einer anderen Figur, oder aber in der Zeit einige Jahre vorwärts, wenig später setzt die Erzählung wieder 20 Jahre früher an und schildert, was sich eigentlich gleichzeitig entwickelt hat. Diese Zeitsprünge, zusammen mit den zahlreichen neuen Charakteren, von denen manche gar nicht länger als fünf Seiten interessieren, erschweren den Zugang zu From Hell erheblich und machen es einem auch bisweilen schwer, das durchaus gewichtige Buch wieder in die Hand zu nehmen.
Auch der Aufbau mancher Kapitel wirkt aufgesetzt kompliziert, so nimmt der Mörder, nachdem er beauftragt wurde seinen Kutscher auf eine Rundfahrt durch London und offenbart ihm in einem nicht enden wollenden, schwülstigen und so verschachtelt aufgebauten Monolog seine persönliche Rechtfertigung für die Gräueltaten, die er zu begehen gedenkt. Bis jedoch herauskristallisiert wird, worauf der Monolog hinausläuft, sind schon sage und schreibe 30 Seiten vergangen – wer hier in der Mitte den Faden verliert, darf ansich nochmals von vorne anfangen. Dass der Leser in diesem langen Kapitel aber auch Geographie Londons im 19. Jahrhundert mit auf den Weg bekommt, geht in der Szenerie beinahe unter. Diese kleine Stadtrundfahrt gehört dabei mit zu den historisch beeindruckendsten des gesamten Buches und ist mit so vielen Anspielungen und Hintergrundinformationen versehen, dass man allein darüber ein neues Buch schreiben könnte.
Die Erzählung kommt ansich erst in Fahrt, wenn in Kapitel fünf der erste Mord begangen wird, wenn sich endlich aufzulösen beginnt, wie die verschiedenen Schicksale des unehelichen Prinzenkindes mit dem sich in Geldnot (für das Schutzgeld) befindenden Straßenfrauen und dem Täter verknüpfen. Zu sehen, dass und wie diese Fäden zusammenlaufen ist hingegen wieder beeindruckend und verblüfft auch bei mehrmaligem Nachdenken, angesichts der nicht von der Hand zu weisenden Kaltblütigkeit, mit der die Königsfamilie um ihre Geheimnisse bemüht war (und vermutlich noch ist). So gibt es jedoch einige Stellen im Buch, die so lange vorbereitet werden, dass man sich als Leser zuerst mit einem Kapitel voll Hintergrundinformationen beschäftigen muss, ehe man erkennt, worauf die Szene ansich hinausläuft. Hier hätte Autor Moore zweifelsohne eine bessere Methodik finden können, um From Hell auch für weniger Themen versierte zugänglich zu machen. Wer sich für das Jack the Ripper Thema von vorne herein interessiert, wird an dem Buch auch Gefallen finden, dass jemand auf Grund dieses Comics einen Draht zu der Thematik bekommt ist eher unwahrscheinlich.

Gerade im fünften Kapitel wird jedoch auch eines deutlich, was die eigentliche Absicht des Buches vorerst in Frage stellt; einerseits bemühten sich die Macher, ihr Werk so authentisch wie möglich zu halten, andererseits ist es doch mit so vielen kreativen und inhaltlichen Freiheiten versehen, dass man es trotzdem weder als Fantasy-, noch als Sachbuch einstufen kann. So sind die Hintergründe der Personen im Buch und der Gegebenheiten herausragend recherchiert, und doch gibt es immer wieder Fantasy-Elemente, wie hellseherische Momente, in denen Jack the Ripper die Zukunft der Welt zu erhaschen scheint, vor seinem geistigen Auge eine Exkursion ins 20. Jahrhundert unternimmt und daher auch seine Motivation für weitere Morde erhält. Dies scheint ebenso unpassend wie die Idee, während des ersten Mordes die Zeugung (!) Adolf Hitlers in Österreich zu zeigen, womit die Künstler wohl zum Ausdruck bringen, dass in jener Nach alles Übel des kommenden Jahrhunderts entstand. Das mag vom künstlerischen Standpunkt betrachtet keine schlechte Idee sein, wirkt aber im Kontext vollkommen unpassend.
Dahingegen sind weitere Ideen, wie das Auftauchen des als Elefantenmensch bekannt gewordenen John Merrick im Buch, oder auch die Einbeziehung der Freimaurer und des Königshauses in den Fall wirklich sehr gut gelungen.
Wie authentisch der Comic mit dem Thema umgeht, sieht man als Leser jedoch schon an der verwendeten Sprache, der dargestellten Gepflogenheiten, die zum Teil schon über das Maß des Gewohnten hinausgehen und der akkuraten Umsetzung der Morde selbst, insbesondere des bestialischen Verbrechens an Marie Kelly, das zwar glücklicherweise nicht in allen Einzelheiten geschildert wird, aber so dargebracht wird, dass sich auch einem erwachsenen Leser der Magen verkrampft, bedenkt man, dass die Leiche wirklich in dem Maße entstellt wurde. Schon deshalb ist From Hell keinesfalls für Kinder oder Jugendliche geeignet und angesichts der vollkommen unverständlichen Motivation für die Verbrechen werden auch Erwachsene Zeit brauchen, das geschilderte zu verarbeiten. Denn im Gegensatz zu gewöhnlichen Sachbüchern zum Thema wird hier das Geschehen nicht nur beschrieben, sondern auch mit Bildern untermalt, man kann tatsächlich sehen, wie Jack the Ripper vorgegangen ist; die Zeichnungen von Eddie Campbell bestechen dabei sowohl mit ihrer Präzision, als auch ihrem ausgewaschenen, bisweilen fast schon schemenhaften Look, der genauen Umsetzung der tatsächlichen Orte und auch durch die für ein Comic eher ungewöhnliche Darstellung in schwarz und weiß. Die Bilder kommen zum Teil auch ohne Worte aus, stehen für sich selbst und beunruhigen in vielen Momenten auf Grund ihrer Eindringlichkeit und ihres fast schon gespenstisch authentischen Charakters. Campbell nutzt die Bilder dabei fast schon wie eine Filmkamera, bewegt sich bisweilen näher auf die Gesichter der Figuren zu, oder lässt sie in der Umgebung versinken, zeichnet weiche, malerische Portraits oder harte, karge Umrisse für die Szenen, unterscheidet die Figuren schon allein durch ihre Kleidung oder ihre Körperhaltung und macht es einem damit im Laufe des Comics leichter, die Figuren auf den ersten Blick zu erkennen.
Wer From Hell wirklich verstehen will, kommt nicht umhin die Anhänge zu jedem einzelnen Kapitel zu lesen, in denen Moore nicht nur Hintergrundinformationen, sondern auch notwendige Querverweise auf frühere oder spätere Geschehnisse im Buch zusammen getragen hat. Diese wirken zwar anfangs noch etwas trocken, insbesondere, da diejenigen zu den ersten Kapiteln länger geraten sind (schon weil hier die Basis für das weitere Verständnis geschaffen wird), trotzdem sind sie unverzichtbar und veranschaulichen auch kleinste Details, die Einzug in die einzelnen Bilder gefunden haben.

Nach dem etwas rauen Beginn entfaltet From Hell eine Dynamik, der man sich kaum entziehen kann, und das trotz der Tatsache, dass der eigentliche Mörder schon zu Beginn gezeigt wird. Die Identität sei hier nicht verraten, aber auch wenn es verständlicherweise schwierig geworden wäre, die "Motivation" des Täters hinterher erklären zu wollen, so scheint es für einen Thriller (und nichts anderes ist der Comic) doch verwunderlich, dass der Mörder von Anfang an bekannt ist.
Ganz so einfach ist es bei der ursprünglichen Veröffentlichung nicht gewesen, denn auch wenn From Hell in Großbritannien und den USA inzwischen als ein Comicbuch verfügbar ist, ursprünglich wurde die Geschichte in 10 Teilen von 1991 bis 1996 meist ein oder zwei Kapitel (zusammen mit den Anhängen) veröffentlicht, ehe 1999 der erste vollständige Band erschien – und in dieser Veröffentlichungsform ist der Mörder auch nicht von Beginn an ersichtlich. In Deutschland hingegen ist der Comic inzwischen in drei Teilen verfügbar, die zusammen natürlich teurer kommen als das Gesamtwerk im Import, und heute zum Teil gar nicht mehr verfügbar sind. Die Frage, welche Version eher zu empfehlen ist, ist sehr schwer zu beantworten, denn auch wer in der englischen Sprache gut bewandert ist, wird mitunter Schwierigkeiten mit den Texten im Buch haben, immerhin sind die Gespräche nicht nur komplex und verschachtelt, sondern auch in einer altertümlichen Umgangssprache verfasst, von der viele Ausdrücke und Abkürzungen heute nicht mehr geläufig sind.

Letztendlich ist es nicht relevant, welches Gesicht Jack the Ripper trägt, er ist inzwischen weit mehr, als ein Frauenmörder geworden, er ist ein Sinnbild für die Grausamkeit unserer Zeit, die uns zuerst schockiert und an die man sich – so krank das klingen mag – im Laufe der Zeit gewöhnt hat. Würde man den alltäglichen Berg der Zeitungsberichte von Schandtaten an Männer, Frauen und Kinder einem Zeitgenossen von Fred Abberline zeigen, würde dieser sich vermutlich schockiert abwenden.
Jack the Ripper ist ein Teil der Kultur des 20. Jahrhunderts geworden, die Mythen ranken sich auch 115 Jahre nach seinen Verbrechen noch um ihn, und je mehr Gesichter jener Mörder verliehen bekommt, desto mehr scheint sein Gesicht mit dem eines jeden Menschen zu verschmelzen. Das Böse wurde nicht vom Menschen in die Welt getragen, es war schon immer hier, nur fand es im Menschen ein williges Werkzeug.
Den Horror jener Zeit, die Angst und Beklemmung der Menschen einzufangen ist Moore & Campbell wirklich sehr gut gelungen, und wenn man die ersten fünf Kapitel überstanden hat, die Geschichte sich nach ihrer ewig währenden, unnötig verschachtelt erscheinenden Präposition endlich zu entfalten beginnt, entwickelt From Hell auch eine nicht zu unterdrückende Sogwirkung, die den Leser von einer Seite zur anderen fliegen lässt. Aber auch dann stören immer noch die Fantasy-Elemente, die fehlenden Charakterhintergründe und die Tatsache, dass oft viel zu schnell von einer Szene auf die nächste gewechselt wird. Wenn ohnehin schon sehr vieles in dem Comic auf Vermutungen und Einfällen des Autors beruht, hätte man sich hier ein wenig mehr Mut zur "Verfremdung" des Stoffes gewünscht. Die Zeichnungen sind ebenso faszinierend wie deprimierend, besitzen in ihrem schwarz-weißen Bild eine bisweilen schon schmutzig wirkende Authentizität, die gerade bei den Einstellungen der Tatorte so realistisch wirkt, dass man kaum hinschauen kann und es einem doch schwerfällt, sich abzuwenden.
Handwerklich ist der Comic exzellent gezeichnet, und auch die Recherchenarbeit ist beeindruckend und mit einem kaum vorstellbaren Maß an Ausdauer durchgeführt worden. Doch gestaltet sich der Anfang von From Hell derart schwer, dass vielen Interessenten der Einstieg verwehrt bleiben wird, und auch am Schluss hätte man sich weniger Fantasy und mehr personenbezogene Momente gewünscht; der Epilog mit Abberline und Robert Lees fängt dabei die drückende Stimmung des Buches gekonnt ein, auch wenn sich die Ermittlungen von Abberline und Godley unmittelbar davor etwas länger hinziehen, als man sich das gewünscht hätte.


Fazit:
Alan Moores und Eddie Campbells Arbeit einzuschätzen fällt mir sehr schwer. Einerseits ist ihnen mit den authentischen Hintergründen, den realistisch dargestellten Personen und vor allem der plausiblen Theorie um die Morde im Armenviertel Whitechapel ein wirkliches Kunstwerk gelungen, andererseits stört es, dass man über die eigentliche Hauptfigur Abberline kaum mehr gesagt bekommt, als am Anfang; auch der Mörder bleibt trotz der weitreichenden Einführung in seinem Handeln blass, sein Verhalten seiner Frau gegenüber wird allenfalls kurz erwähnt, findet aber keine große Beachtung. Zudem stören die zwar realistischen, aber bisweilen ewig langen Einführungen und die verschachtelten Monologe, bei denen man immer wieder versucht ist, vorzublättern. Hat man es aber einmal bis ins fünfte Kapitel geschafft, rauscht die Geschichte an einem vorbei, der Spannungsbogen wird immer weiter aufgebaut, und man muss als Leser mit ansehen, wie für die wissende Justiz ein Unschuldiger als Sündenbock herhalten muss.
Zusammen mit den Zeichnungen fasziniert From Hell vor allem durch seine glaubhafte Geschichte, schockiert aber gleichzeitig mit der grausam-realistischen Beschreibung der schrecklichsten Verbrechen des 19. Jahrhunderts. So kann ich das Buch nur denjenigen empfehlen, die an dem Thema interessiert und bereit sind, sich in diese schwere Materie einzuarbeiten. Ich habe ehrlich gesagt erst eine Woche später gemerkt, dass mir das Buch auf Grund der Thematik und ihrer Umsetzung sehr gut gefallen hat.