Mark Billingham: "Die Tränen des Mörders" [2002]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 18. Dezember 2005
Autor: Mark Billingham

Genre: Thriller / Drama

Originaltitel: Scaredy Cat
Originalsprache: Englisch
Gelesen in: Englisch
Ausgabe: Taschenbuch
Länge: 419 Seiten
Erstveröffentlichungsland: Großbritannien
Erstveröffentlichungsjahr: 2002
Erstveröffentlichung in Deutschland: 2003
ISBN-Nr. (gelesene Ausgabe): 0-06-103220-4


Kurzinhalt:
Erneut steht der charismatische Londoner Polizist Tom Thorne vor einem schwierigen Fall, den er zusammen mit seinen Kollegen Dave Holland und Sarah McEvoy in einem neu gegründeten Sondereinsatzkommando lösen soll.
Wie es scheint, wurden zwei Frauen, Carol Garner und Ruth Murray, die meilenweit voneinander entfernt wohnen, im Laufe weniger Stunden auf dieselbe Art und Weise getötet. Die Vorgehensweise des Täters scheint dabei sowohl sehr ähnlich, wie auch bisweilen gänzlich unterschiedlich. Die Beweislage führt Tom Thorne zu einer erschreckenden Schlussfolgerung: nicht ein Mörder, sondern zwei sind in London auf freiem Fuß und mit jeder weiteren Leiche, die entdeckt wird, könnte ein weiteres Opfer verbunden sein.
Um die Täter zu schnappen, greift Thorne nach einer überraschenden Wendung des Falls auf eine ungewöhnliche Taktik zurück, doch scheint diese nur noch mehr Menschen in Gefahr zu bringen und der Täter ist zudem willens, diejenigen, die Thorne am nächsten stehen, ebenfalls zu bedrohen ...


Kritik:
Viel Zeit ließ sich der britische Autor Mark Billingham nach seinem internationalen Bestseller Der Kuss des Sandmanns [2001] nicht, ehe er eine Fortsetzung mit denselben Hauptfiguren nachlieferte. Inzwischen ist die Reihe um drei weitere Bücher erweitert worden.
Dabei ist schon nach wenigen Seiten klar, dass der Autor die subtile und deshalb so schockierende Krimierzählung seines Thrillererstlings in Die Tränen des Mörders durch verstörend plastisch geschilderte und hoffnungslos dargebrachte Erzählungen ablöst, die gerade in Bezug auf die ersten Morde wirklich schockieren. So richtet sich Scaredy Cat (der Originaltitel bedeutet übersetzt "Angsthase") noch mehr als das erste Buch um den kantigen Polizisten Tom Thorne an eine erwachsene Leserschaft, die auf den etwas mehr als 400 Seiten nicht nur einen exzellent dargebrachten Krimi serviert bekommt, sondern psychologische Portraits der verschiedensten Figuren gezeichnet findet.

Die Geschichte selbst, hat man den leider sehr offenherzigen Klappentext (oder die obige Inhaltsangabe) nicht gelesen, entpuppt sich im ersten Drittel als überaus überraschungsreich und wird auf mehreren Zeitebenen erzählt, die Aufschluss über die Motivation der Täter geben. Sie erfährt danach aber einen regelrechten Knick. Urplötzlich ist einer der Täter in Gewahrsam, doch was folgt ist alles andere als eine nicht enden wollende Verhörszenerie. Vielmehr gelingt es Billingham hier, die Jagd nach dem verbleibenden Mörder noch persönlicher zu gestalten und das Katz-und-Maus-Spiel immer weiter zu steigern.
Hierfür nutzt der Autor einerseits die Rückblicke als auch die bekannten und neu eingeführten Personen, die interessanterweise alle in Aktion treten dürfen und gleichzeitig weiterentwickelt werden. Die Story selbst verblüfft immer wieder mit guten Einfällen und einer erstaunlich ruhigen Erzählweise, wobei eindeutig die Charaktere im Vordergrund stehen.

Diese werden glücklicherweise nach wie vor sehr lebensnah geschildert und bekommen erneut einen weiter ausgebauten Hintergrund zugeschrieben, allen voran Tom Thorne, über dessen Vergangenheit der Leser erneut ein Kapitel erfährt und dessen Beziehung zu seinem Vater in eine andere Richtung entwickelt wird, als man zunächst vermuten würde. Er bleibt nach wie vor sympathisch, auch wenn seine resignierte, aber nicht desinteressierte Natur manche Leser abschrecken wird. Angesichts seiner Vergangenheit und seines Berufs ist diese düstere Schilderung jedoch mehr als nur gelungen und passt hervorragend auf den erfahrenen Polizisten.
Dass sowohl Dave Holland, als auch Phil Hendricks erneut vorkommen und mehr zu tun haben, als noch im ersten Roman, ist überraschend und erfreulich, auch wenn man sich für beide etwas mehr gewünscht hätte. Wenig erfährt man allenfalls über DCI Brigstocke, der zwar nicht farblos bleibt, aber eindeutig zu kurz kommt.
Dafür sieht es bei Sarah McEvoy und den beiden Tätern Stuart Nicklin, sowie Martin Palmer, gänzlich anders aus. Während McEvoy eine der tragischsten Figuren des Buches darstellt, fasziniert die Beschreibung, das Psychogramm der beiden Mörder gerade auf Grund der realistischen Schilderung ihrer Vergangenheit, die sich zwar an bekannte Elemente der Thematik anlehnt und auch so erscheint, als wäre sie von einem Profiler erdacht worden (und deswegen etwas prototypisch), aber nichtsdestotrotz mitzureißen vermag.
Dass sich Billingham trotz der ohne Zweifel reißerisch brutalen Geschichte auf seine Figuren konzentriert, sie in den Mittelpunkt rückt und auch bekannten Charakteren neue Facetten verleiht, ist lobenswert und vor allem sehr gut gelungen. Dass auch Nebencharaktere zum Zug kommen, verwundert dabei umso mehr.

Durch die verschiedenen Erzählebenen behält der Autor den konstanten Spannungsbogen des Buches auch dann bei, wenn die Ermittlungen der Polizei zu stagnieren drohen. Wenn jedoch mit den verschiedenen Schnipseln aus der Vergangenheit der beiden Täter ein Puzzleteil zum anderen gefügt wird, sich immer mehr ein Gesamtbild eines durch und durch bösartigen Menschen ergibt, dessen Wurzeln weit früher ansetzen, als man vermuten würde, lässt einen Die Tränen des Mörders nicht mehr los. In diesem Zusammenhang scheint die Auflösung zwar nicht ganz so überraschend, auch wenn die falschen Fährten, die Billingham auslegt recht schnell als solche zu entlarven sind, aber es bleibt dennoch elektrisierend und in sich äußerst spannend. Diesmal spendiert der Autor seinen Figuren auch einen längeren Epilog, in dem weitere Charakterentwicklungen angekündigt werden und andere (dieses Buches) zum Abschluss gebracht werden.
Wie sich die Geschichte um Tom Thorne und die übrigen Figuren weiterentwickeln wird, lässt sich kaum abschätzen.

Sprachlich sollte man sich als Leser der Originalausgabe auf zwei Änderungen gegenüber dem ersten Roman einstellen: Einerseits verzichtet Mark Billingham zum großen Teil auf Fachwörter und den im ersten Teil auf Grund der Thematik bedingten Jargon, andererseits ist die Schilderung der Verbrechen sowohl sehr bildlich, die Anzahl der Kraftausdrücke aber im selben Maße gestiegen. Das mag Scaredy Cat zwar mehr an Realismus verleihen, wird jedoch deutschsprachige Leser, die die sichtlich entschärften Übersetzungen gewohnt sind, etwas überraschen.
Davon abgesehen bleibt Billingham durchgehend verständlich, schildert mit einer bildreichen Sprache ein trostloses, kühles und den Wintermonaten entsprechendes London, das aber auch bei seinen schlimmsten Seiten immer noch so scheint, als würde es Spuren eines großen Kampfes tragen, der noch nicht verloren, aber auch noch nicht gewonnen ist. Diese tristen Schilderungen wirken, ebenso wie der Fall selbst, sehr bedrückend, lassen aber ein greifbares Bild vor dem geistigen Auge des Lesers entstehen – eben diese Detailtreue weist Billingham aber auch bei der Beschreibung der Tatorte und bei den Morden selbst auf, was zum sichtlich gestiegenen Brutalitätsgrad des Romans merklich beiträgt.

Was Autor Mark Billingham in seinem zweiten Tom Thorne-Roman präsentiert, ist in der Tat bemerkenswert: Sowohl die Story selbst, als auch die Figuren wirken überaus realistisch, und wenn sich der Kreis um bestimmte Personen im Buch immer enger zieht, steigt auch die Spannung immer weiter an, bis die Seiten am Leser regelrecht vorbeifliegen.
Dass Die Tränen des Mörders dennoch für Erwachsene gedacht ist, steht außer Frage und wem der erste Teil der Reihe gefallen hat, wird auch hieran Gefallen finden. Man sollte sich aber darauf einstellen, dass Billingham härtere Töne anschlägt und weniger zimperlich die Verbrechen des mörderischen Duos beschreibt als noch im ersten Roman. Dennoch gelingt ihm mit dem zweiten Buch der Polizisten-Reihe ein interessanter, schweißtreibender und exzellent dargebrachter Beitrag, der sich gerade durch die psychologischen Studien der verschiedensten Personen vom Rest des Genres abhebt.


Fazit:
Es ist eine graue Welt, in der Tom Thorne versucht, dem Bösen Einhalt zu gebieten und die Unschuldigen zu beschützen – eine Welt, in der es für Thorne schwer vereinbar scheint, ein guter Polizist und gleichzeitig ein guter Mensch zu bleiben. Diese Ambivalenz herauszuarbeiten, ohne in Genreklischees zu verfallen, oder aber arg übertrieben zu erscheinen, war ein Anliegen für Autor Mark Billingham, dem dieses Kunststück hervorragend gelungen ist.
Auf Grund der Thematik und der immer persönlicher werdenden Charakterbeschreibungen (sowie des privaten Umfelds der Hauptfigur) richtet sich der zweite Roman der Reihe um den sympathischen, aber strengen und rauen britischen Großstadtpolizisten an eine ruhige, bedachte und doch reife Leserschaft, die weniger auf die Effekthascherei manch anderer Autoren setzen, als auf die ausgefeilten Zeichnungen der im Roman dargebrachten Figuren. Die Psyche von zwei vollkommen unterschiedlichen Tätern entschlüsselt zu bekommen und gleichzeitig selbige Sezierung bei drei anderen Figuren im Roman zu beobachten, deren Motivation trotz ihres gemeinsamen Berufs so unterschiedlich ist, ist eine Erfahrung, die man gemacht haben sollte, denn auch wenn es die Taten jener Verbrecher nicht mindert oder erklärt, es entmystifiziert die als Monster verschrieenen Serientäter und macht sie als Menschen nur noch Furcht einflößender.
Doch auch wenn mir Die Tränen des Mörders als Polizei-Thriller ansich besser gefallen hat, als der erste Tom Thorne-Roman, Der Kuss des Sandmanns, fehlt für eine höhere Wertung das Quäntchen Originalität, das das erste Buch von diesem abhob. Wer jedoch bereits in die düstere Welt von Thorne eingetaucht ist, sollte sich Scaredy Cat nicht entgehen lassen, dahinter verbirgt sich einer der schonungslosesten und deshalb fesselndsten Krimis der letzten Zeit, für dessen Verständnis das Kennen des ersten Romans allerdings Pflicht ist.