Philip K. Dick: "Der dunkle Schirm" [1977]

Wertung: 4.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 25. Dezember 2008
Autor: Philip K. Dick

Genre: Science Fiction

Originaltitel: A Scanner Darkly
Originalsprache:
Englisch
Gelesen in: Englisch
Ausgabe: Taschenbuch
Länge: 217 Seiten
Erstveröffentlichungsland: USA
Erstveröffentlichungsjahr: 1977
Erstveröffentlichung in Deutschland: 1980
ISBN-Nr. (gelesene Ausgabe): 978-1-857988-47-5


Kurzinhalt:
Wenn er seinem Vorgesetzten Hank berichtet oder vor einer Gruppe von "normalen" Menschen spricht, trägt Fred seinen 'Jedermanns-Anzug', der in Bruchteilen von Sekunden die Gestalt und das Gesicht des Trägers durch das Abbilden von einer Vielzahl an Gesichtern und Gestalten verbirgt. Fred selbst arbeitet Undercover und ist den Mitbewohnern seines Hauses als Bob Arctor bekannt. Sein Auftrag ist es, die Hersteller und Verteiler der gefährlichen Droge 'Substanz D' ausfindig zu machen.
Dafür gibt er sich als Drogendealer und –kurier in einem, knüpft Kontakte und versucht sich an dem Vertriebsweg der Droge empor zu angeln. Sein wichtigster Kontakt ist Donna Hawthorne, über die er an den nächst größeren Dealer herankommen möchte. Doch während er sich ihr immer mehr hingezogen fühlt und seine Wohngemeinschaft mit Jim Barris, Charles Freck und Ernie Luckman immer mehr aus den Fugen gerät, verschwimmen für Bob die Grenzen zwischen seinem gespielten Privatleben und der Arbeit immer mehr. Und als regelmäßiger Konsument von 'Substanz D' spürt er die Auswirkungen des Konsums ebenso wie die bewusstseinsverändernde Wirkung.
So wird er wie die anderen Menschen um sich herum nicht nur zunehmend paranoider, sondern sieht sich immer mehr abwechselnd als Fred oder Bob – vergisst aber, dass er an sich beides ist ...


Kritik:
Philip Kindred Dick gehört auch heute noch zu den am meisten zitierten Science Fiction-Autoren des letzten Jahrhunderts. Seine Werke zählen zu den einflussreichsten des Genres und zahlreiche seiner Bücher und Geschichten wurden verfilmt, darunter unter anderem Total Recall - Die totale Erinnerung [1990] oder Der Blade Runner [1982], dessen Veröffentlichung er trotz seines jungen Alters von 53 Jahren nicht mehr erlebte.
Sein Roman Der dunkle Schirm zählt dabei zu jenen Werken, die er in Angriff nahm, nachdem er die Auswirkungen seiner Entscheidungen am eigenen Leibe zu spüren bekam. Der Gestaltungsprozess begann dabei bereits 1973, wurde durch verschiedene andere Werke unterbrochen, ehe die Geschichte, die er auf eigenen Erfahrungen im Umgang mit Drogen und Halluzinogenen basierte, endlich veröffentlicht wurde. Herausgekommen ist ein schwieriges Werk, dessen Aussagen sich nicht klar einordnen lassen, und das einen als Leser einerseits berührt, aber auch unterkühlt zurücklässt.

Die Erzählung wirft den Leser dabei mitten in eine Vision, die beim Erscheinen des Romans knapp 20 Jahre in die Zukunft reichte und 1994 eine von Drogen und Misstrauen verfressene Gesellschaft prophezeite. Das geht soweit, dass die behüteten Schichten von der Polizei vom normalen Alltag auf den Straßen und dem Leben in den Städten und Slums abgeschottet wird, der Kampf gegen Drogen praktisch aufgegeben wurde.
Die verdeckten Ermittler sind so sehr damit beschäftigt, ihre Identitäten geheim zu halten, dass sich die Überwachungsorgane schon selbst überwachen, ohne es zu ahnen. Wer dabei in den Sumpf des Verbrechens hinabsteigt, läuft Gefahr, nicht mehr heraus zu kommen. Doch konzentriert sich Dicks Roman hauptsächlich auf den Mikrokosmos um Bob Arctor alias Fred und seine Wohngemeinschaft, der mit zunehmender Zeit immer mehr Risse aufweist. Missgunst, fehlendes Vertrauen, Paranoia und Schizophrenie treffen auf eine Gruppe Erwachsener, von denen sich manche so naiv geben wie Kinder, die das Leben einzig als Möglichkeit sehen, mit einem fortwährenden Drogentrip die Realität um sich herum zu vergessen.
Doch kommt gerade hier die Geschichte eher schleppend in Gang. Der Autor Beschreibt den monotonen Tagesablauf der Gruppe und Arctors, dessen Alter Ego Fred es zunehmend schwerer fällt, sich als Teil der Gruppe zu sehen, weil er sich schlicht daran erinnern kann. Die geschilderte Persönlichkeitsspaltung hervorgerufen durch den Drogenkonsum geht dabei sehr schleichend von statten. Was an sich hinter der Mission steckt, auf die Fred geschickt wurde, nämlich den Fabrikanten der Substanz D auf die Schliche zu kommen, wird erst sehr viel später im Roman wieder aufgegriffen und wirkt auch dann nicht vollends ausgenutzt. So mäandriert das Buch gerade im Mittelteil relativ lange um ein bestimmtes Thema, ohne jedoch den Kern der Sache treffen zu können. Wer auf spannende Momente um den Ermittler hofft, bleibt großteils enttäuscht.

Stattdessen nimmt der Autor die Beziehung der Figuren untereinander unter die Lupe und zeigt an ganz alltäglichen Situationen, wie diese durch die veränderte Realitätswahrnehmung durch die Drogen eine ganz andere Bedeutung gewinnen. Wie urplötzlich Aggressionen aufkeimen, wo zuvor nichts zu sehen war, beziehungsweise sich Erinnerungen verändern, die an sich gar nicht lange her sind. Selbst einfaches rationales Denken wird in einer von Paranoia getriebenen Gruppe unmöglich.
Auslöser ist dabei jedes Mal der undurchsichtige und bösartig angelegte Jim Barris, in dem Arctor alles Schlechte der Wohngemeinschaft personifiziert. Über seinen Hintergrund erfährt der Leser allerdings wenig und auch seine Motive bleiben unklar.
Während man bei der sympathischen Donna Hawthorne schnell vermutet, dass hinter ihr mehr steckt, als auf den ersten Blick zu sehen, ist es doch Bob Arctor selbst, an dessen Werdegang man als Leser am meisten interessiert ist. Auch seine Vergangenheit bleibt zu großen Teilen im Dunkeln, doch mitzuerleben, in welchem Maße und in welcher Geschwindigkeit er die Grenzen zwischen seinem Auftrag und seinem Leben in der Gruppe aus den Augen verliert, ist in gewissem Sinne erschreckend. Er, der er die Gefahren der Substand kennt und ihre Auswirkungen, kann nicht umhin, ihr und ihren Nebenwirkungen zu verfallen, wenn er den Auftrag erfüllen soll, für den er ausgesandt wurde. Es nimmt damit dem bei Abhängigen häufig zitierten Spruch "Ich kann aufhören, wenn ich will" die unantastbare Mystik. Sei es, dass Bob Arctor ein Undercover-Agent ist, er ist nichtsdestoweniger ein Süchtiger – und wäre es nicht um andere Menschen in seinem Leben, hätte er dies auch nicht selbst erkannt.
Die übrigen Figuren nehmen merklich weniger Raum ein im Roman, ergänzen die Gruppe allerdings gekonnt.

Auf Grund des sich wiederholenden Tagesablaufs der Gruppe gestaltet sich Der dunkle Schirm oder A Scanner Darkly, wie der Roman im Original lautet, nicht überaus spannend. Wer angesichts der wertfreien Schilderung der verschiedenen Figuren, die weder als sozial heruntergekommen oder deren Existenz gar als erstrebenswert beschrieben wird, keinen Bezug zur Geschichte findet, dem wird der Roman relativ schwer fallen. Welche Überwachungs- und Spionageelemente sich Philip K. Dick für die Zukunft einfallen lässt, ist überaus interessant. Doch nicht so faszinierend, welche Folgen dies für die Gesellschaft insgesamt hat; in einem Staat, in dem die Ermittler überwacht werden und selbst nicht wissen, wer aus der Gruppe ihr eigener Informant ist (oder ob es mehrere gibt), verzetteln sich die Agenten so lange untereinander, bis die Loyalitäten und Zugehörigkeiten ganz verschwimmen. Diese Elemente des Buches sind dabei weniger stark ausgeprägt, aber nicht weniger interessant, als die sozialen und psychologischen Auswirkungen, die Dick im Umgang mit Drogen schildert.
Das Finale hält der Autor dabei bewusst offen und liegt dabei – wenn man die heutige Situation im Kampf gegen den Drogenkonsum in Augenschein nimmt – alles andere als falsch.

Sprachlich weist Der dunkle Schirm trotz seiner Handlung viele sprachliche Anleihen an die 1970er Jahre auf, also der Zeit, in der der Roman entstand. Auf Grund der sehr realitätsfernen Gesprächsverläufe und Schilderungen im Buch sind die Gedankengänge, Schilderungen und Gespräche der Gruppe mitunter auch sehr schwer zu verstehen. Das einerseits, weil manche Figuren immer wieder mit Fremd- und Fachwörtern aufwarten, hauptsächlich allerdings, weil der Inhalt mitunter gar keinen Sinn oder einen grotesk Philosophischen ergibt.
Wer sich darauf einlässt bekommt ohne Nebenwirkungen aufgezeigt, wie Drogen (vor 30 Jahren wie heute) wirken, beziehungsweise welche Auswirkungen ihr Konsum auf den Junkie hat. Die gesellschaftlichen wie persönlichen Auswirkungen erörtert Philip K. Dick dabei an seinem Mikrokosmos um Bob Arctors Gruppe. Und da diese Einblicke bei ihm autobiografischer Natur sind, gestalten sie sich außergewöhnlich intim in Beziehung auf seine persönlichen Erfahrungen.


Fazit:
Die Zukunftsvision, die Philip K. Dick in A Scanner Darkly entwirft ist alles andere als hoffnungsvoll. Das Ende hält er bewusst ambivalent, schon deswegen, weil alles was Bob Arctor erreicht hat mit einem hohen Preis bezahlt wird. Faszinierend ist es, dabei mit anzusehen, wie sich die Gruppe um Arctor nicht zuletzt durch den paranoiden und bösartigen Jim Barris selbst das Leben schwer macht, wie ihre Wahrnehmung und Reaktion auf ganz normale Situationen durch den Drogenmissbrauch gestört und damit ihre Beziehung untereinander kaputt gemacht wird.
Glücklicherweise begeht der Autor dabei nicht den Fehler, die Figuren als Opfer darzustellen, oder Mitgefühl für ihre Situation wecken zu wollen. Er schildert ihren mentalen und sozialen Abstieg wertfrei, beschreibt es selbst im Nachwort nicht als "Krankheit", sondern lediglich als "Entscheidung". Dass man dies mit ansehen kann, ohne sich selbst jenen Gefahren auszusetzen, ist sein Weg, aus seinen Erfahrungen wenigstens etwas Positives zu ziehen. Doch so verstörend ich Der dunkle Schirm auch fand, wirklich gefesselt hat er mich nie. Dicks Konsequenz, die Geschichte so zu erzählen kann ich damit nur honorieren, doch ob man es unbedingt gelesen haben muss, sei dahingestellt.
Vielleicht ja nur deswegen, um sich davon zu überzeugen, dass der Drogenkonsum die Welt um einen herum nicht schöner macht. So fasst Philip K. Dick in seinem bewegenden und wichtigen Nachwort zusammen: "In diesem speziellen Lebensstil lautet das Motto 'Sei jetzt glücklich, denn morgen stirbst Du', nur dass das Sterben beinahe sofort beginnt und das Glücksgefühl nur eine Erinnerung ist."