Philip Pullman: "Das magische Messer" [1997]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 02. Juli 2008
Autor: Philip Pullman

Genre: Fantasy / Science Fiction

Originaltitel: His Dark Materials: The Subtle Knife
Originalsprache:
Englisch
Gelesen in: Englisch
Ausgabe: Taschenbuch
Länge: 341 Seiten
Erstveröffentlichungsland: Großbritannien
Erstveröffentlichungsjahr: 1997
Erstveröffentlichung in Deutschland: 1997
ISBN-Nr. (gelesene Ausgabe): 978-0-439994-13-2


Kurzinhalt:
Um seine Mutter - alles was von seiner Familie noch übrig geblieben ist - zu beschützen, wird Will Parry unbeabsichtigt zum Mörder. Nun ist er auf der Flucht und stolpert dabei ungewollt in eine Welt ähnlich seiner eigenen, aber doch anders. Dort, in der Stadt Cittàgazze, trifft Will auf das verstörte Mädchen Lyra, die schon seit Tagen in der von Erwachsenen verlassenen Welt herumirrt. Sie entdecken, dass sie sich in einer Welt befinden, die Zugang zu unterschiedlichen Welten gewährt - immerhin stammen Will und Lyra aus einem unterschiedlichen Oxford.
Doch bald schon merken sie, dass sie sich nicht zufällig getroffen haben. Beide haben eine Bestimmung; Will ist auf der Suche nach seinem seit Jahren verschollenen Vater, während es Lyras Aufgabe vorerst ist, Will zu unterstützen. Zu Lyras Hilfe eilen sowohl Lee Scoresby, als auch die Hexe Serafina Pekkala, die ebenfalls die Übergänge zwischen den Welten gefunden haben. Währenddessen verfolgt Lord Asriel weiter seinen undurchsichtigen Plan - und Mrs. Coulter ist Lyra immer noch auf den Fersen. Doch Wills Abenteuer hat gerade erst begonnen ...


Kritik:
Es ist immer schwer, einzelne Teile eines größeren Werkes zu bewerten; die Schwierigkeit, wenn man allerdings das Gesamtwerk beurteilen möchte, liegt jedoch darin, dass einzelne Aspekte nach der langen Zeit vergessen, oder gar überbewertet werden. Es ist außerdem nicht einfach, den mittleren Teil einer Trilogie gesondert zu sehen. Immerhin besitzt die Geschichte weder einen Anfang, noch einen Schluss, sie ist herausgerissen und unvollständig.
Geschichtenerzähler aller Medien kennen die Problematik seit jeher und schaffen es mitunter dennoch, sie zu ihrem Vorteil zu nutzen. Denn im zweiten Teil hat man die Möglichkeit, das bisher beschriebene zu vertiefen, die Charaktere auszubauen und der Geschichte neue Facetten zu verleihen, für die allerdings das Vorwissen der ersten Erzählung vonnöten ist. Philip Pullman versteht es in Das magische Messer, dem zweiten Teil seiner His Dark Materials-Trilogie, die Beschränkungen der Fortsetzungsgeschichte zu seinen Gunsten zu nutzen und schmückt sein bislang schon etabliertes Universum auf eine so fantastische Art und Weise aus, dass auch die Kritikpunkte an Der goldene Kompass [1995] verblassen.

Der Inhalt setzt dabei unmittelbar nach den Ereignissen in Der goldene Kompass an, jedoch nicht bei Hauptfigur Lyra, sondern bei Will Parry, dem neuen Protagonisten, der Lyra nicht nur ebenbürtig ist, sondern dem sie laut dem Alethiometer helfen muss, seinen Vater zu finden - um schließlich seine Bestimmung erfüllen zu können. Denn die Geschichte um Lyras Vater Lord Asriel ist noch lange nicht vorbei und leitet an sich nur auf den dritten Roman, Das Bernstein-Teleskop [2000] über.
Interessant ist dabei, dass nicht nur viele bekannte Charaktere wieder auftreten, wie der Aeronaut Lee Scoresby, sondern auch einige neue Figuren eingeführt werden, die entweder innerhalb der Geschichte eine Rolle spielen, oder aber noch im kommenden Buch auftauchen werden. Aber es werden auch einige Stories zu Ende gebracht - zumindest vorläufig. Verblüffend ist insofern, dass Autor Philip Pullman sehr viel zum Hintergrund der Fantasywelt erklärt, auch was denn der Staub tatsächlich ist, wird gelüftet und eine faszinierende Brücke zu unserer Welt geschlagen. Aber obwohl so viele Fragen beantwortet werden, werden wieder neue aufgeworfen. Der Autor belohnt den Leser insofern, als dass er ihm Erklärungen und Hintergründe liefert, ohne aber zuzulassen, dass die Neugier der Leserschaft weniger wird. Insofern scheint Pullman noch lange nicht am Ende seiner Vorstellungskraft angekommen und verzaubert mit seinen ebenso wissenschaftlichen, wie philosophischen Ansätzen immer wieder aufs neue.
Einziger Kritikpunkt ist insofern, dass der Roman in der Tat keinen Abschluss bietet und auch mehr auseinander gerissen scheint, als beispielsweise die Trennung zwischen dem ersten und zweiten Buch. So wirkt Das magische Messer um knapp 50 Seiten zu kurz und endet nicht auf einer so spannenden oder packenden Note, wie Der goldene Kompass zuvor.

Davon abgesehen gibt es am dramaturgischen Aufbau des Buches kaum etwas zu bemängeln, verabschiedet sich der Autor hier auch glücklicherweise vom sehr systematischen Aufbau des Vorgängerromans, in dem an wohl platzierten Stellen unvermittelt Actioneinlagen eingestreut wurden, um die Leser interessiert zu halten. Dem ist hier nicht ganz so, vielmehr packt Philip Pullman mehr Inhalt in weniger Seiten, hetzt den Leser trotz weniger Actionmomente in einem atemberaubenden Tempo über die Seiten und hält jenes Tempo auch von der ersten bis zur letzten Seite aufrecht.
Das ist am Ende mehr als packend und bleibt trotz den Sprüngen zwischen den verschiedenen Welten immer nachvollziehbar.

Nach ihrem ruppigen und sehr egoistischen Auftreten in Der goldene Kompass, schafft Lyra Belacqua hier endlich den Sprung zu einem ebenso rücksichtsvollen wie pflichtbewusstem Mädchen, auch wenn sie diese Lektion auf schmerzliche Weise erlernen muss. Sie macht innerhalb der knapp 350 Seiten eine große Veränderung durch, die aber nicht übereilt oder gehetzt erscheint, sondern ihre Figur natürlich formt.
Will Parry wird in dieser Zeit komplett neu aufgebaut und mit einem ebenso tragischen wie traumatischen Hintergrund versehen. Aber auch seine Entscheidungen bleiben immer nachvollziehbar, und dies, obwohl er vielleicht eine traurigsten Figuren des Buches darstellt.
Dagegen spielen Mrs. Coulter und Lord Asriel nur eine untergeordnete Rolle und haben kaum etwas, beziehungsweise gar nichts zu tun - auch wenn sie immer wieder erwähnt werden.
Anders die ebenfalls neu vorgestellte Wissenschaftlerin Dr. Mary Malone aus Wills Welt, die aber im kommenden Buch mehr zu tragen kommen soll.
Erfreulich ist, dass Lee Scoresby wieder etwas zu tun bekommt und diesmal sogar mehr, als im letzten Buch; auch sein Aufeinandertreffen mit Dr. Stan Grumman gehört zu einem der aufschlussreichsten Momente des Romans, ebenso wie die Hexe Serafina Pekkala nach wie vor eine der undurchschaubarsten und faszinierendsten Wesen darstellt.
Dass jeder Figur mindestens ein größerer Moment zugeschrieben wird, ist an sich schon erfreulich genug, dass sie alle weiterentwickelt werden, sie die Sympathien der Leser für sich gewinnen können, umso gelungener. Dabei scheint die von Kindern bevölkerte Welt Cittàgazze beinahe wie ein eigenständiger Charakter im Roman; und ein überaus beängstigender noch dazu.

Dadurch, dass Das magische Messer wenig in Lyras Welt, als vielmehr in der von Cittàgazze, beziehungsweise vermutlich unserer spielt, ist der Roman auch vom Wortschatz und der Ausdrucksweise besser zu verstehen, als Der goldene Kompass. So liest sich der zweite Roman der Trilogie nicht nur bedeutend schneller, sondern auch flüssiger.
Blickt man nach den knapp 350 Seiten zurück, büßt Philip Pullman im zweiten Buch seiner Fantasy-Trilogie nichts an Originalität oder Einfallsreichtum des ersten Romanes ein, sondern steigert die bekannte Aspekte vielmehr, verknüpft gekonnt Lyras Universum mit unserem, sodass Vieles einen Sinn ergibt, was bislang willkürlich gewählt schien. Die Hintergrundgeschichte kommt dabei weiter in Fahrt und offenbart auch viele Antworten, lässt aber weiter auf ein großes Finale hoffen, das - so wäre es für eine Trilogie üblich - im letzten Roman dann endlich eintreffen wird.


Fazit:
Auch wenn His Dark Materials als Mehrteiler konzipiert gewesen sein mag, es überrascht doch, dass es Autor Philip Pullman im zweiten Buch gelingt, alle positiven Aspekte des ersten zu steigern, ohne dass man den Eindruck bekommt, ihm würden irgendwann die Ideen ausgehen. Nahtlos fügen sich die Storyelemente mit denen des ersten Romans zusammen, es erschließen sich Zusammenhänge, wo man zuvor vermutet hatte, dass Pullman dies ohne Hintersinn so gewählt hatte. Doch auch wenn noch viele Puzzleteile fehlen (und der Autor beantwortet nicht wenige Fragen innerhalb des Romans), das Gesamtbild, das sich nach Das magische Messer erschließt, ist mehr als nur beeindruckend.
Die Übergänge zwischen den Welten sind dabei so fließend, wie zwischen den Themengebieten aus Theologie, Physik und Philosophie, das Spektrum der Geschichte so fantasievoll und so detailreich, dass mit der zweite Roman merklich mehr beeindruckt hat, als der erste. Und das nicht nur, weil die Charaktere viel sympathischer und facettenreicher erscheinen. Ich bin gespannt, wie Autor Pullman sein Fantasy-Epos auflösen wird. Die höhere Seitenzahl des dritten Buches lässt auch darauf hoffen, dass es nicht so abrupt abgebrochen wird, wie dieses hier.