Sonne und Beton [2023]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 25. Februar 2023
Genre: Drama / Krimi

Laufzeit: 119 min.
Produktionsland: Deutschland
Produktionsjahr: 2023
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: David Wnendt
Musik: Enis Rotthoff, Konstantin Djorkaeff Scherer
Besetzung: Levy Rico Arcos, Vincent Wiemer, Rafael Luis Klein-Heßling, Aaron Maldonado-Morales, Luvre47, Wael Alkhatib, Lucio101, Jörg Hartmann, Derman Eker, Leon Ullrich, David Scheller, Imran Chaaban, Bernd Grawert, Nicole Johannhanwahr, Gerdy Zint, Felix Lobrecht, B-Tight, Elisabeth Albin, Franziska Wulf


Kurzinhalt:

Im Sommer 2003 will der Neuntklässler Lukas (Levy Rico Arcos) im Berliner Bezirk Neukölln, Ortsteil Gropiusstadt, an sich nur in die Schule, um nicht durchzufallen. Doch da er seinen Schülerausweis nicht finden kann, wird er nicht hineingelassen. Er verbringt den Tag mit Gino (Rafael Luis Klein-Heßling) und Julius (Vincent Wiemer). Sie geraten letztlich in eine Schlägerei mit einer Bande Drogendealer im Park, die danach von Lukas 500 € fordern und sogar seine Familie bedrohen. Auch wenn Lukas’ Lehrer Herr Sonnabend (Leon Ullrich) an sein Potential glaubt und sein Vater (Jörg Hartmann) Lukas einzutrichtern versucht, Ärger aus dem Weg zu gehen, Lukas selbst sieht eher zu seinem großen Bruder Marco (Luvre47) auf, der in einschlägigen Kreisen einen Ruf hat, aber wie sein kleiner Bruder in der Klemme sitzt. Zusammen mit dem neuen Mitschüler Sanchez (Aaron Maldonado-Morales) entschließen sich Lukas, Gino und Julius, in die Schule einzubrechen und dort neu gelieferte Computer zu stehlen, mit deren Erlös Lukas hofft, seine Schulden bezahlen zu können. Doch damit treten sie nur neue Ereignisse los, die sie noch weiter von dem Weg entfernen, den Lukas an sich gehen will …


Kritik:
Angesiedelt im Sommer des Jahres 2003, erzählt die Verfilmung von Felix Lobrechts Roman Sonne und Beton vom Aufwachsen im Ortsteil Berlin-Gropiusstadt des Bezirks Neukölln. Als sozialer Brennpunkt mit vielen Kindern armer Familien, einem hohen Migrationsanteil und hochgewachsenen Plattenbauten, in denen viele Menschen auf wenig Raum zusammengepfercht sind, bietet dies Regisseur David Wnendt die Gelegenheit für eine vielschichtige Milieustudie. Die Frage ist nur, an wen sich diese richtet.

Im Zentrum der Erzählung stehen die vier Jugendlichen Lukas, Gino, Julius und Sanchez. Lukas’ Bruder Marco ist in der Nachbarschaft bekannt, wenn auch aus wenig rühmlichen Gründen. Lukas selbst besitzt von den vier das meiste Potential. Sein Lehrer ist überzeugt, dass er das Abitur schaffen könnte, seine Ausarbeitungen sind gut genug. Doch Lukas traut sich selbst zu wenig zu und pendelt zwischen den Aussagen seines Vaters und Marcos hin und her. Sein Vater vermittelt ihm, dass der Klügere nachgibt – Marco, dass der Klügere nachtritt. Gino ist der verschlossenste der Gruppe, der von einem gewalttätigen, alkoholsüchtigen Vater regelmäßig verprügelt wird. Sanchez kommt erst später in die Klasse und wächst ohne Vater auf. Julius ist ein Aufschneider, der stets große Sprüche klopft und glaubt, sich als Mann zu beweisen, wenn er jede Konfrontation auf sich nimmt, sie aber nie zu Ende führt. In gewisser Weise sind Julius und Marco an allem Schuld, das Lukas erwartet. Nachdem er seinen Schülerausweis nicht bei sich hat und deshalb nicht auf das Schulgelände gelassen wird, führt ihn der Tag zu Gino und Julius, wobei letzterer Ärger mit im Park befindlichen, jungen Drogendealern provoziert. Dies führt zu einer großen Schlägerei und dazu, dass Lukas den Angreifern 500 € zahlen soll. Um die zu besorgen, lässt er sich schließlich auf einen Einbruch und Diebstahl ein. Doch statt sich mit der Beute freizukaufen, warten nur mehr Enttäuschungen.

Inwieweit Lobrechts Buchvorlage auf Tatsachen basiert, sei in diesem Zusammenhang dahingestellt. Die filmische Umsetzung von Sonne und Beton wirkt in jedem Fall authentisch und behauptet in einer Texteinblendung zu Beginn, „es war alles genau so“, um es dann wieder zu relativieren („vielleicht auch nicht“). Regisseur David Wnendt stellt einen Alltag vor, der auch bei den Jugendlichen von Zigaretten, Drogen und Alkohol geprägt ist, in dem auf der Straße, den Parks und Plätzen, in denen sich kaum Polizei findet, das Recht des Stärkeren gilt. Wie auch meist in den privaten Wohnungen. Lukas’ Vater ist arbeitslos, seine Mutter bereits verstorben. Zu seiner Stiefmutter hat er kein gutes Verhältnis und so sehr sein großer Bruder Marco für ihn ein Idol ist, so wenig kann oder will er für seinen jüngeren Bruder selbst eines sein. Sieht man ihn zusammen mit den drei anderen, hört sie in von Schimpfworten geprägter Sprache über pseudo-relevante Themen oder ihre eigene Stärke sinnieren, wirken sie gerade auf Grund des teils aggressiven Auftretens, wie vier unreife Jugendliche. Dennoch sind sie alle nicht grundlos so, wie sie sind, was bei dem angeberischen Julius am deutlichsten wird, dessen Hintergrund Stück um Stück aufgedeckt wird und der Lukas immer wieder in Aktionen verwickelt, von denen dieser sich im Grunde fernhalten will.

Alle vier sind für sich genommen schwierige Persönlichkeiten, doch sie sind durch ihre persönlichen Umstände gleichermaßen geprägt wie durch ihre Umgebung, zu der auch zählt, dass sie keine Personen in ihrem Leben haben, die sie anspornen und zu denen sie aufsehen können. Dass sie sich selbst und ihren Mitschülerinnen wie Mitschülern die Chance auf eine bessere Zukunft nehmen, wenn sie entscheiden, in ihre eigene Schule einzubrechen, um neue Computer zu stehlen, und damit die Bande, die Lukas bedroht, auszahlen zu können, erkennen sie nicht einmal dann, wenn man sie darauf hinweist. Stattdessen sind sie der Überzeugung, dass wenn sie sich beim Verhökern der Ware auf zwielichtige Gestalten einlassen, die doppelt oder dreimal so alt sind wie sie selbst, sie ihnen ebenbürtig wären. Sonne und Beton findet viele gelungene Beobachtungen in diesem Zusammenhang und im letzten Drittel mit der Beziehung zwischen Lukas und seinem Bruder Marco eine treffende Pointe, die jedoch dem Publikum vorbehalten ist. Gerade Lukas erfährt sie nicht, obwohl sie seine Entwicklung nachhaltig prägen könnte.

Es bleibt die Frage, an wen sich dieses Porträt richtet. Ungeachtet der Altersfreigabe eignet es sich durch die dargestellte Gewalt, die nicht in jedem Fall verurteilt wird, im Grunde kaum für ein jugendliches Publikum, das sich davon aber überwiegend angesprochen fühlen dürfte. Für ältere Zuschauerinnen und Zuschauer hält David Wnendt wenig bereit, das man nicht bereits über das Aufwachsen in einer solchen Umgebung wusste, selbst wenn es noch einmal etwas ganz anderes ist, dies auf der großen Leinwand zum Leben erweckt zu sehen. Als Gesellschaftszeugnis ist dies aber so entlarvend und bezeichnend wie treffend. Und wenn nur die Hälfte davon wahr ist, eine Mahnung, dass eine Chancengleichheit der Kinder und Jugendlichen auch hierzulande mehr politisches Wunschdenken als alltägliche Realität ist.


Fazit:
Ob zuhause, in den Parks oder in der Schule, überall werden Lukas, Gino, Julius und Sanches damit konfrontiert, dass sich nur die Stärksten durchsetzen. Ihre grundlegende Aggressivität, ihr Gehabe und ihr Auftreten sind daher weniger ein Schutzschild als eine Notwendigkeit, um in einer Gesellschaft zu überleben, in der Banden- und Drogenkriminalität ebenso zum Alltag gehören wie Gewalt. Gegen einen selbst, oder gegen andere. Filmemacher David Wnendt gelingt eine Milieustudie über das Erwachsenwerden in einer solch schwierigen Umgebung. Dicht an den Figuren inszeniert, wirkt Sonne und Beton geradezu dokumentarisch mit einer authentischen Optik, passender Musik (die für ein Teil des Publikums aber nicht zugänglich sein dürfte) und vier sehenswerten Darbietungen der jungen Schauspieler im Zentrum, die die intensive Erzählung auf bemerkenswerte Weise mit Leben erfüllen. Die Erzählung selbst wirkt wie der Alltag der Jugendlichen insbesondere im Mittelteil aber nur wenig fokussiert und bringt Vieles auch am Ende nicht zu einem Abschluss. Zudem berühren manche Enttäuschungen für Lukas oder Gino nicht in dem Maße, wie sie könnten. Das liegt auch daran, dass die Inszenierung in den Momenten mehr um Schauwerte, denn um die emotionale Wucht bemüht scheint. Daher kommt das Ende eher unerwartet, mutet (zu) versöhnlich und weniger von den Figuren „erarbeitet“ an. Doch das schmälert nicht die entblätternde Darstellung, die den Beteiligten hier gelungen ist.