Slumdog Millionär [2008]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 18. April 2011
Genre: Drama

Originaltitel: Slumdog Millionaire
Laufzeit: 120 min.
Produktionsland: Großbritannien
Produktionsjahr: 2008
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Danny Boyle, Loveleen Tandan (Ko-Regisseur Indien)
Musik: A.R. Rahman
Darsteller: Dev Patel, Madhur Mittal, Freida Pinto, Ayush Mahesh Khedekar, Azharuddin Mohammed Ismail, Rubina Ali, Tanay Chheda, Ashutosh Lobo Gajiwala, Tanvi Ganesh Lonkar, Irrfan Khan, Saurabh Shukla, Anil Kapoor, Rajendranath Zutshi, Mahesh Manjrekar, Ankur Vikal, Sanchita Choudhary


Kurzinhalt:
Kurz vor der letzten Frage bei "Wer wird Millionär?", bei der es um 20 Millionen Rupien geht, ist die aktuelle Sendung vorüber. Statt bis zur nächsten Show nach Hause zu fahren, wird der Spieler Jamal (Dev Patel) von Polizisten abgeführt, da er des Betrugs verdächtigt wird. Der Polizeiinspektor (Irrfan Khan) lässt ihn mit brutalen Mitteln verhören, und als Jamal anfängt zu reden, ist es kein Geständnis.
Er erzählt vielmehr Episoden aus seiner Kindheit und Jugend, wie er (Ayush Mahesh Khedekar) in den Slums aufgewachsen ist und mit seinem Bruder Salim (Azharuddin Mohammed Ismail) dem Gangster Maman (Ankur Vikal) entkommen musste. Jahre später sucht er immer noch nach Latika (Freida Pinto), einem Mädchen, das mit ihm und seinem Bruder geflohen war. Doch als junger Erwachsener schließt sich Salim (Madhur Mittal) dem skrupellosen Verbrecher Javed (Ankur Vikal) an, und das Vertrauen der Geschwister wird auf eine harte Probe gestellt.
So viel hat Jamal schon erlebt, dass die Fragen zu beantworten an sich ein Leichtes ist – nur ob er durch die Show findet, was er wirklich sucht, bleibt fraglich. Dafür gibt er den Armen in Indien die Hoffnung, dass selbst für einen Slumdog alles erreichbar ist ...


Kritik:
Das Manipulative an Slumdog Millionär ist die Tatsache, dass sich der Film anfühlt, als beschreibe er eine wahre Geschichte. Tatsächlich basiert der oscarprämierte Film jedoch auf dem Roman Rupien! Rupien! [2005] des indischen Diplomaten Vikas Swarup, der sich zwar einige Ideen bei tatsächliche Ereignisse holte, letztlich aber eine Abenteuergeschichte mit indischen Wurzeln erzählen wollte. Insofern ist der Aufstieg des Underdogs, der vom Slumbewohner über Nacht zum Millionär wird, zwar inspirierend, aber doch "nur" erfunden. Der prominent verwendete Begriff "Slumdog" ist vom Regisseur auch nicht als Schimpfwort gedacht gewesen, sondern sollte eine Verbindung zwischen Slumbewohner und Underdog herstellen.
Sieht man den Aufstieg des ungelernten Jamal und auch, was die Show "Wer wird Millionär?" mit dem millionenschweren Gewinn für Menschen jener Herkunft bedeuten kann, wird auch schnell klar, weswegen bereits die Romanvorlage zu einem Bestseller wurde. Nachdem er am ersten Abend in der Show bereits bei der Rekordmarke von 10 Millionen Rupien angekommen ist, endet die Show vor der letzten Frage, doch statt nach Hause zu fahren, wird Jamal von der Polizei abtransportiert und unter Folter verhört. Wie kann ein Taugenichts, ein Slumdog, so viel wissen? Dass er betrogen hat, steht für den Polizeiinspektor außer Frage. Nur wie? Als sie Jamal eine Aufzeichnung der Sendung zeigen, erzählt er den Polizisten bei jeder Frage, welcher Moment in seinem Leben, ihm die Antwort gegeben hat.

So erlebt man als Zuseher, wie Jamal mit seinem Bruder Salim in den Straßen von Mumbai zum Waisen wird. Wie er sich als kleiner Junge mit dem Mädchen Latika anfreundet, und wie sie von der Müllkippe geholt werden von einem Gangster, der die Kinder zum Betteln schickt und sie dafür sogar verstümmelt – nur so bekommen sie mehr Geld. Das Bild, das Slumdog Millionär von Indien zeichnet, ist nicht nur sehr eindringlich geraten, es verdeutlicht im späteren Verlauf auch den krassen Gegensatz des Landes, das einerseits einige der reichsten Menschen der Welt beheimatet, und das einen entscheidenden Anteil an der Informationstechnologie besitzt, in dem es aber gleichzeitig so viel Armut und Elend gibt, dass man sich dessen Ausmaße in einer Stadt mit 14 Millionen Einwohnern kaum vorstellen kann.
Zeit seines Lebens ist Jamal auf der Flucht, auf der Suche nach allem, was ihn den kommenden Tag ernährt. Zusammen mit seinem Bruder Salim wird er zum Kleinkriminellen, ehe Salim bei einer versuchten Befreiung Latikas eine Grenze überschreitet. Beide Brüder haben die gleiche Herkunft, das gleiche gesehen und erlebt. Und doch gehen sie einen ganz unterschiedlichen Weg. Auch das beschreibt Regisseur Danny Boyle in einem Film. Latika ist, wenn man es so will, der rote Faden, der sich durch Jamals Leben zieht. Ihretwegen nimmt er alles auf sich, sie ist auch der Grund, weswegen er bei der indischen Ausgabe von "Wer wird Millionär?" sitzt. Nicht das Geld – darum geht es ihm nicht. Die Liebesgeschichte, die Slumdog Millionär erzählt, erinnert nicht von ungefähr und ebenso dank der Actioneinlagen an Bollywood-Kino, dem die Macher auch beim Abspann mit dem Tanz der Akteure treu bleiben – selbst wenn die Crew hinter der Produktion nicht jenem Filmhintergrund entstammt. Vielleicht reizte Boyle auch die Möglichkeit, beide Kulturen einander näher zu bringen. Mit acht gewonnenen Oscars und einem Einspielergebnis von beinahe 400 Millionen Dollar bei einem Budget von 15 Millionen, war der Film ein voller Erfolg. Er bedeutete auch, dass das tägliche Leben Indiens einem breiten Publikum zugänglich wurde.

Wer sich darauf einlässt, wird miterleben, wie Jamal gegen alle Widerstände versucht, sein Schicksal einzuholen, und wie die Brüder durch ihre unterschiedlichen Entscheidungen auseinanderleben. Das ist dank der sehr guten Darsteller, wobei hierzu auch die Kinder zählen, und die sehr lebendige Inszenierung gut gelungen. Den Konflikt der unterschiedlichen Religionen in Indien arbeitet Slumdog Millionär nur am Rande heraus. Drehbuchautor Simon Beaufoy interessiert mehr, wie die ungewöhnliche Erfolgsgeschichte eines Jungen aus den Slums ein ganzes Land inspiriert, und wieso er trotz oder gerade auf Grund seiner Herkunft mehr als geeignet sein kann, die Fragen zu beantworten. Das ist packend erzählt und macht Mut, auch wenn der dokumentarische Touch vielleicht dazu verleitet, sich zu viel Hoffnung zu machen.


Fazit:
Wie könnte jemand aus den Slums Fragen beantworten, die selbst Professoren nicht wüssten? Slumdog Millionär verwebt mehrere Erzählebenen und zeigt dabei auf, wie Jamal, aufgewachsen auf der Straße, trotz seiner jungen Jahre so viele Informationen aufgeschnappt hat, dass er sich ohne Betrug durch die indische Sendung "Wer wird Millionär?" rätseln konnte. Dies wird rückblickend erzählt und veranschaulicht auch den Wandel in Indien, wie sich Jamal mit seinem Bruder auseinanderlebte und wie die engelsgleiche Latika für Jamal den einzigen Lichtblick darstellt.
Spannend und mit einer bewegten Optik dargebracht von Regisseur Danny Boyle fühlt sich Slumdog Millionär nicht wie typisches Hollywood-Kino an, und ist doch kein Bollywood. Es verbindet verschiedene Stilrichtungen und bringt dem Publikum in einer hoffnungsvollen Geschichte ein Land dar, das gegensätzlicher nicht sein könnte.