Sin Nombre [2009]
Wertung: |
Kritik von Jens Adrian |
Hinzugefügt am 03. März 2011
Genre: DramaOriginaltitel: Sin nombre
Laufzeit: 96 min.
Produktionsland: Mexiko / USA
Produktionsjahr: 2008
FSK-Freigabe: ab 16 Jahren
Regie: Cary Fukunaga
Musik: Marcelo Zarvos
Darsteller: Paulina Gaitan, Edgar Flores, Kristian Ferrer, Tenoch Huerta, Diana García, Gerardo Taracena, Luis Fernando Peña, Marco Antonio Aguirre, Rosalba Quintana Cruz, Giovanni Florido, Hector Anzaldua, Iván Rafael, Gabino Rodríguez, David Serrano, Harold Torres
Kurzinhalt:
Ihr Vater Horacio (Gerardo Taracena) will die junge Sayra (Paulina Gaitan) aus Honduras in die USA holen. Da es keine gesetzlich erlaubte Einwanderung ist, müssen sie zusammen mit Sayras Onkel durch Mexiko reisen und dort im Nordosten über die Grenze nach Amerika. Auf den Dächern der Züge durch Mexiko reisen viele illegale Emigranten.
In Mexiko aufgewachsen ist Willy (Edgar Flores), von seinen Gangbrüdern genannt El Casper. Er gehört den Mara Salvatruchas an, die ebenso wenig Gnade mit rivalisierenden Gangmitgliedern zeigen, wie umgekehrt. Willy bringt den Jungen El Smiley (Kristian Ferrer) in die Gang und ist sogar bei seiner Initiation dabei. Als ihr Anführer Lil' Mago (Tenoch Huerta) Willys Freundin Martha Marlene (Diana García) tötet und die Tat abtut mit einem "Du wirst 'ne Andere finden", ist Willy wie ausgewechselt. Als er, Lil' Mago und El Smiley die Illegalen auf einem der Züge überfallen, rächt sich Willy und schickt El Smiley fort.
Während sich Sayra von Willy angezogen fühlt, bekommt El Smiley von Lil' Magos Nachfolger El Sol (Luis Fernando Peña) den Auftrag, Willy zu töten, wenn er sich einen Platz in der Gruppe verdienen will. Es ist der Beginn einer Tragödie ...
Kritik:
Das Gangleben in Mexiko ist eine eigene Subkultur, angefangen mit Initiationsriten, Prüfungen, die Neulinge bestehen müssen, bis sie zur Gemeinschaft gehören, einer eigenen Sprache mit Ausdrücken, die Außenstehende nicht verstehen werden. Es gehört eine eigene Rangliste dazu, ein Ehrenkodex, nicht niedergeschriebene Gesetze, eine Uniform bestehend aus Tätowierungen und sogar eigenstehende Namen für die Mitglieder der Gemeinschaft. Wenn seine Freundin Willy zu sprechen wünscht, weiß das Oberhaupt seiner Gang beispielsweise gar nicht, wer er ist. Bekannt ist er nur als El Casper. Sin Nombre fängt diese Kultur in ungeschönten Bildern ein und verwebt dabei das Schicksal von Willy 'El Casper' aus Mexiko mit demjenigen von Sayra, die aus Honduras in die Vereinigten Staaten übersiedeln will. Ihr Vater Horacio holt sie mit ihrem Onkel ab und begibt sich auf eine lange Reise durch Mexiko, um dann über einen unbewachten Grenzübergang in die USA überzusetzen.
Regisseur Cary Fukunaga, der zwei Jahre lang für seinen Film recherchierte, erzählt die beiden Geschichten mit einer Selbstverständlichkeit, führt dem Zuschauer die Gewaltbereitschaft jener Jugendlichen als etwas so alltägliches vor Augen, dass es schockiert, ohne die Brutalität unterhaltsam darstellen zu wollen. Die Initiation des vermutlich noch nicht einmal zwölf Jahre alten El Smiley in die "Familie" der Mara Salvatrucha-Gang mag dabei grausam erscheinen, angesichts dessen zu was der Junge im Laufe von Sin Nombre zu tun bereit ist, ist es jedoch nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Was die Jugendlichen dabei in die Gangs treibt, wie ihr Alltag aussieht, wenn sie sich nicht von morgens bis abends mit Einschüchterungen, Schutzgelderpressungen oder dem Auffinden und Töten von rivalisierenden Gangmitgliedern beschäftigen, wird nicht geklärt. War es bei El Smiley die Aussichtslosigkeit seiner eigenen Zukunft in Armut, anhand derer ihm die Bandenzugehörigkeit wie ein Luxusleben erschien? Oder wurde er gehänselt und getriezt, so dass er den Schutz der Gemeinschaft suchte? Fukunaga gibt darauf ebenso wenig Antwort, wie was Willy zur Gang gezogen hat. Oder wie Sayras Vater mit seiner neuen Familie in New York gelandet ist, während sie in Honduras aufwuchs. Der Film interessiert sich nicht für das warum und woher, ihn interessiert eher die Momentaufnahme. Dafür nimmt Sin Nombre Willy und Sayra und die Menschen, die sie begleiten als Beispiele heraus, die angetrieben von ihren Träumen und Wünschen ins Ungewisse starten. Sayra in eine Zukunft in Amerika, unter der sie sich nichts vorstellen kann, zusammen mit den anderen Emigranten auf den Zügen durch Mexiko. Willy als Todgeweihter, der nie weiß, wann seine Gangmitglieder ihn einholen. Sie schworen Rache, nachdem er ihren Anführer Lil' Mago tötete, der den Tod von El Caspers Freundin zu verantworten hat. Und El Smiley weiß nicht, wohin ihn seine Zukunft im Clan bringen wird. Sayra hingegen sieht ihre Zukunft in dem fremden Willy, der ihr das Leben rettet.
Der Erzählstil von Sin Nombre mutet teils wie eine Dokumentation an, so dass bestimmte Situationen, die in Hollywood-Filmen dramatisch zugespitzt wären, hier beinahe nebenbei ablaufen. Filmemacher Fukunaga leitet seine Figuren durch ein vermutlich authentisches Bild Südamerikas, das wie ein Kriegsschauplatz von persönlichen Schicksalen anmutet. Statt aufzuwachsen, wird die nächste Generation der Gangmitglieder herangezüchtet. Statt sich zu verlieben, gibt es enttäuschte Hoffnungen. Und statt einer wiedervereinten Familie gibt es nur Opfer und Trauer. Hoffnung macht der Film ebenso. Darauf, dass man aus dem Kreis der Gewalt und Abhängigkeit ausbrechen kann. Darauf, dass etwas Besseres wartet nach all den Entbehrungen. Doch der Ausgang bleibt mit seiner Absehbarkeit auch das einzig glaubwürdige Ende.
Wer sich darauf einlässt erhält einen realistischen Blick auf zwei Schicksale, die Tausende, wenn nicht noch mehr widerspiegeln. Das ist trotz der wenigen Hintergründe aufschlussreich und bedrückend. Auch ist der Film exzellent gespielt und passend eingefangen. Doch überwiegt letztlich das erdrückende Gefühl der Machtlosigkeit, welche die Hoffnung zur Seite drängt.
Fazit:
Beinahe alle Figuren, die man in Sin Nombre zu Beginn trifft, wirken tieftraurig und das trotz ihres jungen Alters. Am Ende ist diese Traurigkeit nicht vergangen, die Figuren erscheinen lediglich älter und gezeichnet. Selten bekam man in einem Film so viele Jugendliche zu sehen, die überhaupt nichts Jugendliches in ihren Augen schimmern hatten. Selbst bei El Smiley ist dies nach den ersten Momenten verflogen.
Von allen Beteiligten glaubhaft und darum niederdrückend gespielt, allen voran von Paulina Gaitan und Edgar Flores, erzählt Regisseur Cary Fukunaga, ohne zu mahnen, ohne Wege zu zeigen, wie es besser werden kann. Er prangert nicht an, er urteilt auch nicht. Er schildert wie in einer Dokumentation fast unbeteiligt und involviert vielleicht gerade durch die Alltäglichkeit, mit der das von Gewalt erfüllte Leben der Menschen in den Banden oder auf den Waggons der illegalen Emigranten geprägt ist. Das ist zwar aufschlussreich und authentisch, aber nichtsdestoweniger deprimierend im konsequenten Ende.