CODA [2021]

Wertung: 5.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 1. Oktober 2022
Genre: Drama / Komödie

Originaltitel: CODA
Laufzeit: 111 min.
Produktionsland: Frankreich / Kanada / USA
Produktionsjahr: 2020
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Siân Heder
Musik: Marius De Vries
Besetzung: Emilia Jones, Troy Kotsur, Marlee Matlin, Daniel Durant, Eugenio Derbez, Ferdia Walsh-Peelo, Amy Forsyth, Kevin Chapman


Kurzinhalt:

An sich möchte die 17jährige Ruby Rossi (Emilia Jones) lediglich ihrem Schwarm Miles (Ferdia Walsh-Peelo) nahe sein, als sie sich für den Schulchor bei Lehrer Bernardo „Mr. V“ Villalobos (Eugenio Derbez) einträgt. Doch als er Ruby singen hört, erkennt Mr. V in ihrer Stimme ein Talent, das er fördern möchte. Er könnte sich sogar vorstellen, dass sie auf ein Musik-College geht. Für Ruby selbst, deren größte Leidenschaft es ist, zu singen, scheint dies jedoch unerreichbar. Als einziges Mitglied ihrer Familie, das hören kann, ist sie für ihren gehörlosen Vater Frank (Troy Kotsur), Mutter Jackie (Marlee Matlin) und ihren großen Bruder Leo (Daniel Durant) unverzichtbar. Seit Generationen ist die Familie als Fischer in Massachusetts tätig, wobei Fangquoten und steigende Preise Franks Existenz bedrohen. Ohne ihre Tochter würden sie den Anschluss an die Gemeinschaft verlieren und Rubys Leidenschaft können sie nicht nachvollziehen. Es ist ein Dilemma, bei dem Ruby zunehmend die Zeit davonläuft …


Kritik:
In ihrem Remake des französischen Films Verstehen Sie die Béliers? [2014] gelingt Filmemacherin Siân Heder etwas Erstaunliches. Nicht nur, dass CODA lange Zeit leicht sowie amüsant präsentiert wird und sich die Geschichte der 17jährigen Ruby, die als einziges Mitglied ihrer ansonsten gehörlosen Familie hören kann, ab der Hälfte zunehmend berührend gestaltet. Der Film wartet mit einem Ende auf, bei dem einem selbst erst bewusst wird, welche Verbindung man zu den Figuren aufgebaut hat. Das ist großes Kino – und wichtig obendrein.

Die Doppeldeutigkeit des Titels ist dabei wörtlich zu verstehen, denn nicht nur ist damit das musikalische Element gemeint, vielmehr steht die Abkürzung hier für „Children of Deaf Adults“, also „Kinder gehörloser Erwachsener“. Die Teenagerin Ruby Rossi ist ein solches Kind, ihr Bruder Leo und ihre Eltern Frank und Jackie sind taub. Das sorgte nicht nur dafür, dass sie schlecht sprechen konnte, als sie in die Schule kam und dafür gehänselt wurde, sondern auch sonst für sehr besondere Momente. Wie dass ihre Familie in ohrenbetäubender Lautstärke Musik hört, um wenigstens den Bass spüren zu können, oder dass sie körperliche Geräusche von sich geben, die nur Ruby hören können. So ahnen ihre Eltern auch nicht, wie laut sie beim Liebesspiel sind, oder wie schwer sich Ruby konzentrieren kann, wenn die Teller auf den Esstisch knallen. Familie Rossi bleibt für sich, obwohl Leo und Frank als Fischer in Massachusetts an sich Teil einer großen Gemeinschaft sind. Doch für die Interaktion mit den Händlern am Hafen, sei es, wenn es um Preise geht, oder neue Regularien, ist Ruby essentiell. Sie ist das Bindeglied der Familie, um an der hörenden Welt bestmöglich teilzunehmen, was bedeutet, dass auf Rubys Schultern nicht nur eine enorme Verantwortung lastet. Für ihre Eltern ist es selbstverständlich, dass ihre Tochter zum Übersetzen zur Verfügung steht, denn allenfalls Leo kann ein wenig von Lippen lesen.

Das allein wäre bereits Story genug für ein Drama, das beleuchtet, wie isoliert gehörlose Menschen in unserer Welt sind, an der man mit ihrer medialen Dauerbeschallung nur dann vollständig teilhaben kann, wenn man über sämtliche Sinne verfügt. Und das gelingt CODA auch. Sei es, wenn dem auf Grund der Fangquoten ohnehin in Geldnöten befindlichen Frank die Küstenwache die Lizenz entzieht, weil er als Gehörloser nicht ohne eine hörende Person an Bord seiner Tätigkeit nachgehen darf. Oder wenn Leo zu verzweifeln droht, dass er seiner Rolle als großer Bruder nicht nachkommen kann, weil seine kleine Schwester wichtiger für seine Eltern ist, als er. Am schmerzlichsten ist es jedoch, wenn Frank in einem Moment zu Jackie sagt, dass Ruby nie ein Baby war, ihr von klein auf viel mehr abverlangt wurde, als es von Kindern erwartet werden sollte.
Doch erweitert CODA diesen Aspekt dadurch, dass Ruby nicht nur eine Leidenschaft, sondern auch ein Talent für den Gesang besitzt. Um ihrem Schwarm nahe sein zu können, schreibt sie ich in den Schulchor ein und ihr Lehrer Mr. V (herzerwärmend und toll verkörpert von Eugenio Derbez) erkennt das Talent, das in ihr schlummert. Doch Gesang ist etwas, das ihre Familie nicht nachempfinden kann, die so sehr eingeschworen ist, dass die Familie zusammenhält. Rubys Interesse bedeutet zudem, dass sie weniger für ihre Familie da sein kann, was sie nicht nur in einen Gewissenskonflikt bringt, sondern Frank, Jackie und Leo vor eine neue Situation stellt.

Regisseurin Siân Heder beleuchtet all dies, jongliert mit den unterschiedlichen Aspekten der Geschichte und erzählt dabei vom Erwachsenwerden, davon, den eigenen Weg zu gehen und der Leidenschaft zu folgen. Dies macht CODA vor allem in der ersten Hälfte öfter amüsant, als man erwarten würde. Doch spitzen sich die unterschiedlichen Interessen Rubys und ihrer Familie auf einen Konflikt zu und erhält das Publikum durch die untertitelten Gespräche mit den Gehörlosen einen Einblick in die Sorgen dieser stolzen Gemeinschaft, macht der Film mit unvermittelter Wucht deutlich, was für sie auf dem Spiel steht. Sei es, wenn ihnen die Arbeitsmöglichkeit und damit die Lebensgrundlage genommen wird. Oder wenn sie in einem vollbesetzten Saal sehen, wie ihre Tochter auf der Bühne singt und das Publikum sichtlich mitgenommen ist, ohne die Möglichkeit, selbst Teil dieser Erfahrung zu werden. Die Zerrissenheit in Troy Kotsurs Augen zu sehen, wenn Frank spüren will, wovon seine Tochter ihm vorsingt, ist wie auch das Vorsingen am Ende einer der berührendsten Momente, die man seit langem gesehen hat. Das zu sehen (und hören zu können), ist mehr als wertvoll, es ist gewissermaßen ein Privileg.


Fazit:
Auch wenn Rubys Geschichte von Beginn an etwas Warmes und Herzliches besitzt, man fragt sich zu Beginn womöglich, wie Siân Heders Film den begehrten Oscar gewinnen konnte. Der emotionale Aufbau, den die schattierte und so leise wie in ihrer Vehemenz laute Geschichte aufbaut, wird erst am Ende deutlich. Die fantastische Besetzung, auf deren Schultern all dies ruht, lebt sowohl von den drei Gehörlosen Troy Kotsur, Marlee Matlin und Daniel Durant, die die Facetten ihrer Figuren (be)greifbar machen, als auch von Emilia Jones, die viel nuancierter spielt, als man glauben mag. CODA beleuchtet nicht nur einen Teil unserer Gesellschaft, dem viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, der Film ist ein inspirierender und nahegehender Aufruf zugleich. Witzig, traurig und wundervoll berührend, ist das ein Film für die ganze Familie und eine Geschichte, die vielleicht auch Verständnis wecken kann. Ihr Verlauf mag wenig überraschend und absehbar sein, aber ihre Wirkung entfaltet sie dennoch – und nachhaltig. Wertvoll!