Die Erfindung der Wahrheit [2016]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 25. September 2021
Genre: Drama / Thriller

Originaltitel: Miss Sloane
Laufzeit: 132 min.
Produktionsland: Großbritannien / Frankreich / Kanada / USA
Produktionsjahr: 2016
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: John Madden
Musik: Max Richter
Besetzung: Jessica Chastain, Mark Strong, Gugu Mbatha-Raw, Alison Pill, Michael Stuhlbarg, Sam Waterston, John Lithgow, David Wilson Barnes, Jake Lacy, Raoul Bhaneja, Chuck Shamata, Douglas Smith, Meghann Fahy, Grace Lynn Kung, Al Mukadam


Kurzinhalt:

Ihr Ruf eilt der Lobbyistin Elizabeth Sloane (Jessica Chastain) voraus. Sie ist stets bestens vorbereitet, weiß nicht nur ihre Trümpfe auszuspielen, sondern auch die Schwächen ihrer politischen Gegner. Und ihr moralischer Kompass wird stark durch ihre Auftraggeber bestimmt. Das möchte sich der führende Repräsentant der waffenfertigenden Industrie zunutze machen und Sloane engagieren. Die Waffenlobby fürchtet den Gesetzentwurf des „Heaton-Harris Bill“, der eine stärkere Kontrolle bei Waffenverkäufen vorsieht. Daher soll Elizabeth eine Kampagne gegen das Vorhaben anstrengen und dabei weibliche Wähler überzeugen, mehr Waffen zu kaufen. Statt auf das lukrative Angebot einzugehen, lässt sich Elizabeth von Rodolfo Schmidt (Mark Strong) abwerben, dessen Firma Lobbyarbeit für den Heaton-Harris Bill betreibt. Elizabeth bringt Teile ihres Teams mit und sieht Potential in Schmidts Mitarbeiterin Esme Manucharian (Gugu Mbatha-Raw), die sie stark in die Kampagne einbindet. Doch um die einflussreiche Waffenlobby schlagen zu können, muss Elizabeth nicht nur wie zuvor Grenzen überschreiten. Der Preis könnte diesmal höher sein, als ihr früherer Kollege Pat Connors (Michael Stuhlbarg) dafür sorgt, dass Elizabeth vor dem U.S.-Kongress wegen einer Verletzung der Ethikregeln angehört wird …


Kritik:
John Maddens Drama Die Erfindung der Wahrheit ist einer der selten gewordenen Filme, der seinem Publikum nicht haarklein vorgibt, in welchem Kontext er angesiedelt, oder was genau die Motivation der Figuren ist. Es ist eine Erzählung, die es verlangt, dass das Publikum nicht nur in der Lage ist, mitzudenken, sondern sich allein von Dialogen mitreißen zu lassen. Als solches ist die fiktive Nacherzählung einer Lobbyistin, die mit allen Mitteln versucht, ihr Ziel zu erreichen, nicht nur gelungen, sondern ausgesprochen sehenswert.

Im Zentrum steht die Lobbyistin Elizabeth Sloane, die im politischen Machtgebilde von Washington D.C. einen besonderen Ruf genießt. Im Rahmen einer Anhörung des Kongresses der Vereinigten Staaten von Amerika blickt das Drehbuch von Debütant Jonathan Perera immer wieder mehrere Monate oder Wochen zurück, was sich damals zugetragen hat. Zu Beginn war Sloane eine hoch bezahlte Mitarbeiterin einer großen Lobby-Firma, die durch ihre Einflussnahme gerade erst eine neue Steuer verhindert hat. Nun wird sie vom Leiter der einflussreichen Waffenlobby der USA angesprochen. Der sogenannte „Heaton-Harris Bill“ soll eine Prüfung bei Waffenkäufen einführen, so dass der Zugang zu Schusswaffen künftig schwerer wird. Hierdurch sieht die Waffenlobby ihre Einnahmen bedroht und will Elizabeth beauftragen, eine Kampagne gegen das Gesetzesvorhaben anzuführen, die zudem explizit Wählerinnen ansprechen soll. Gleichzeitig wendet sich jedoch auch der Leiter einer gegnerischen Lobby-Firma, Rodolfo Schmidt, an Elizabeth, um sie abzuwerben – denn seine Firma soll sicherstellen, dass der Heaton-Harris Bill verabschiedet wird.

Aus einem solchen Katz-und-Maus-Spiel allein könnte man eine Gesellschaftssatire stricken, doch konzentriert sich Die Erfindung der Wahrheit stattdessen darauf, anhand von Elizabeths Seitenwechsel und ihrem Bemühen, die vermeintlich so waffenaffinen Gesetzgeber Nordamerikas von einer Kontrolle des Waffenbesitzes zu überzeugen, das politische System, nicht nur in den USA, zu sezieren. Denn anstatt durch gute Argumente die politischen Entscheidungsträger von ihrem Standpunkt zu überzeugen, den Heaton-Harris Bill zu unterstützen, nutzt Sloane ihre Verbindungen, um die Mächtigen zu lenken und zu manipulieren. Manchmal direkt, gelegentlich indirekt und mitunter auch nicht auf rechtschaffene Art und Weise. Als ihre Gegner, die neuen Cheflobbyisten ihres vorigen Arbeitgebers, die nach wie vor die Waffenlobby unterstützen und jegliche Kontrolle des Waffenbesitzes als eine Einschränkung der persönlichen Freiheit deuten, erkennen, dass Elizabeth das Kunststück gelingen könnte, genügend Politiker von der Notwendigkeit einer Kontrolle zu überzeugen, ersinnen sie einen Plan, die berechnende Lobbyistin zu diskreditieren und mit ihr das Gesetzesvorhaben zum Scheitern zu bringen.

Auch wenn Die Erfindung der Wahrheit nicht auf Tatsachen basiert und der Heaton-Harris Bill trotz mehrerer, ähnlich gelagerter Vorhaben, nicht Realität ist, die Mechanik hinter der politischen Entscheidungsfindung und der Einflussnahme von Lobbyverbänden auf Gesetze und Entschlüsse, ist sehr wohl Wirklichkeit. Dies in dieser Form komprimiert zu sehen, die Methoden und Manipulationen auf den Punkt heruntergebrochen, ist auf der einen Seite geradezu faszinierend, auf der anderen überaus erschreckend. Es beschreibt ein System, in dem nicht das beste Argument den Zuschlag erhält, sondern wer am meisten bezahlen kann – oder über die schmutzige Wäsche der Politik Bescheid weiß.
In der Rolle der hochintelligenten, strategischen Lobbyistin ist Jessica Chastain erstklassig besetzt. Selbst wenn sie nicht einmal das Publikum in ihre Karten blicken lässt, ist ihre Darstellung von Elizabeth Sloane dennoch facettenreich und tiefgründig. Sei es als Spiegelbild einer karriereorientierten, selbstbewussten Frau, die sich in ihrem Beruf in keinem Moment Schwäche anmerken lässt, der es aber gleichzeitig schwerfällt, ihre Überlegenheit für sich zu behalten. Oder als eine Frau, die auf die körperlichen Dienste von Männern zurückgreift und dafür in der Öffentlichkeit geächtet wird, während Männer an ihrer Position hierfür mit keinen negativen Blicken bedacht werden. Alle Höhen und Tiefen, das leichte Zögern, wenn sie Gefahr läuft, ihre Verteidigung aufzugeben, bringt Chastain fantastisch zur Geltung.

Auch trägt sie mit Leichtigkeit die teils rasiermesserscharfen Dialoge, die in einem Moment buchstäblich für Gänsehaut sorgen, wenn klar wird, wie weit Elizabeth bereit ist zu gehen, um ihr Ziel zu erreichen. Selbst wenn dies bedeutet, dass sie traumatisierte Opfer von Gewalt unwissentlich für ihre Zwecke einspannt. Die Erfindung der Wahrheit ist fantastisch geschrieben, mit zahlreichen Gesprächen, die man mehrmals hören muss, um die Spitzen und Mehrdeutigkeiten verstehen zu können. Der stets charismatische Mark Strong und eine ebenso starke Gugu Mbatha-Raw führen eine weitere Besetzung an, die bis in die Nebenrollen erstklassig ausgewählt ist.
Tadellos gefilmt und in aussagekräftige Bilder gekleidet, kann man John Madden im Grunde lediglich vorhalten, dass einige Handlungsfäden nicht weiterverfolgt werden, wobei dies womöglich dem Umstand geschuldet ist, dass der Film in der vorliegenden Fassung bereits mehr als zwei Stunden dauert. Aber auch der versöhnliche Schluss mag nicht recht zum sehr nüchternen, realistischen Blick auf das Geflecht Lobbyismus und Politik passen. In Anbetracht des Gesamtbildes, fallen diese Makel jedoch kaum ins Gewicht.


Fazit:
Getragen von einer sehenswerten, mit leisen Tönen gespickten Darbietung von Jessica Chastain erzählt Filmemacher John Madden von einem politischen Netz im Herzen der Vereinigten Staaten, das von Abhängigkeiten und Manipulation geprägt ist. Diese Maschinerie in Aktion zu sehen, ist interessant und facettenreich entworfen. Die Dialoge sind oftmals geschliffen und entwickeln eine eigenständige Dynamik, wirken in bestimmten Momenten aber rau. Dabei erweckt der Film auch durch die Aufteilung der Geschichte in Rückblicke den Eindruck, er würde auf realen Personen und Begebenheiten beruhen, das ist aber nicht der Fall. Insofern mag man zur Diskussion stellen, wie wahrscheinlich die dargestellten Abhängigkeiten wirklich sind. Auch dramatische Enthüllungen und die Planungsweisheit bestimmter Figuren sind weit weniger verblüffend, wenn sie „nur“ dem Einfallsreichtum des Drehbuchautoren entstammen. Als wortstarkes, stark gespieltes und tadellos inszeniertes Drama um das alltägliche Geschäft von Politik und Lobbyismus, ist Die Erfindung der Wahrheit jedoch für ein interessiertes Publikum mehr als sehenswert. Dass es hier keine klaren Helden gibt, die Hauptfigur selbst nur schwer greifbar wird und ihre ureigene Motivation gewissermaßen zur Nebensache gerät, liegt in der Natur des Themas. Wenn überhaupt, ist sie ein Beleg dafür, dass man nicht sympathisch sein muss, um dennoch das Richtige zu tun.