Sorry, Baby [2025]

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5–8 Minuten
Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 5. Dezember 2025
Genre: Drama

Originaltitel: Sorry, Baby
Laufzeit: 122 min.
Produktionsland: USA, Spanien, Frankreich
Produktionsjahr: 2025
FSK-Freigabe: noch nicht bekannt

Regie: Eva Victor
Musik: Lia Ouyang Rusli
Besetzung: Eva Victor, Naomi Ackie, Lucas Hedges, Louis Cancelmi, Kelly McCormack, John Carroll Lynch, Hettienne Park, E. R. Fightmaster, Cody Reiss, Jordan Mendoza, Jonathan Myles, Liz Bishop, Natalie Rotter-Laitman, Alison Wachtler, Priscilla Manning, Celeste Oliva, Chhoyang Cheshatsang, Conor Patrick Sweeney


Kurzinhalt:

Die Literaturprofessorin Agnes (Eva Victor) lebt zurückgezogen in Neuengland. Als ihre Freundin Lydie (Naomi Ackie), mit der sie gemeinsam promoviert hat, sie aus New York besucht, ist die Freude beiderseits groß. Doch Lydie macht sich auch Sorgen, fürchtet sie doch, dass Agnes wieder in ein tiefes Loch fallen könnte. Vor vier Jahren, als sie beide ihre Dissertationen schrieben, war Agnes’ Mentor Preston Decker (Louis Cancelmi), selbst ein Autor und Lehrender an der Universität, von ihrer Arbeit begeistert. Auf seine Einladung hin fährt Agnes zu seinem Haus, um ihren Dissertationsentwurf zu besprechen. Doch es kommt zu einem Übergriff, den Agnes selbst nicht einzuordnen vermag. Das traumatische Erlebnis lässt sie nicht los, zumal sie keine Möglichkeit erhält, Decker zur Rede zu stellen. Es dauert Jahre, in denen sich Agnes selbst eingestehen muss, was geschehen ist und bis sie Vertrauen, bspw. zu ihrem Nachbarn Gavin (Lucas Hedges), fassen kann. Nur wenn sie das Trauma erkennt, von dem sie selbst behauptet, es wäre nicht so schlimm, kann sie beginnen, an ihrem eigenen Leben teilzuhaben, anstatt es einfach nur weiterzuleben …


Kritik:
Im sehenswerten Regiedebüt erzählt die non-binäre Filmschaffende Eva Victor von einem Übergriff, von dem die Hauptfigur selbst nicht weiß, wie sie ihn bezeichnen soll. Was er mit ihr anrichtet, versteht man erst im Verlauf der Erzählung, die die vier Jahre, die seither geschehen sind, auszugsweise begleitet. Am Ende wartet Sorry, Baby beinahe mit einem Appell auf, dass selbst wenn man nicht verhindern kann, dass schlimme Dinge geschehen, man den Opfern wenigstens mit aufrichtigem Verständnis begegnen sollte. Das ist so wichtig, man möchte meinen, es wäre selbstverständlich.

Sorry, Baby beginnt damit, wie Agnes und Lydie, die gemeinsam studiert haben, sich vier Jahre nach ihrer Promotion wiedersehen. Agnes wohnt immer noch allein im selben Haus wie damals und lehrt inzwischen als Literaturprofessorin an der Universität. Lydie hat es in der Zwischenzeit nach New York gezogen, wo sie ihre Frau gefunden hat. Und es gibt noch mehr große Neuigkeiten, für die sich Agnes nicht im dem Maße freuen kann, obwohl die Vertrautheit der beiden Freundinnen schnell zurückkehrt. Wenn Lydie Agnes vor ihrer Rückfahrt bittet, nicht zu sterben und die darauf entgegnet, wenn, dann hätte sie das in einem der zurückliegenden Jahre tun können, dann ahnt man bereits, dass etwas vorgefallen sein muss. Dem nähert sich die Erzählung, indem sie in die Zeit zurückspringt, als Agnes mit ihrer Dissertation kurz vor dem Abschluss stand. Ihr Betreuer an der Universität, der Autor Preston Decker, war charmant und zeigt sich von Agnes’ Arbeit begeistert. Sie lehnt nicht ab, als er anbietet, die Abschlussarbeit bei ihm zuhause zu besprechen. Doch der Abend nimmt einen anderen Verlauf als gedacht und Agnes’ Welt wir daraufhin nie mehr dieselbe sein.

Verlässt sie Deckers Haus, wirkt Agnes apathisch, als würde sie funktionieren und wäre doch nicht sie selbst. Lydie erzählt sie, soweit sie sich erinnern kann, was geschehen ist. Wie zuvor, wenn die Kamera auf Deckers Haus verharrt, während die Zeit verstreicht, wirkt die Schilderung länger, als sie sein müsste. Doch lässt Victor das Publikum so daran teilhaben, wie orientierungslos sich Agnes fühlen muss. Weder sie, noch Lydie sprechen aus, wie man den sexuellen Übergriff bezeichnen kann, ja, muss. Erst der untersuchende Arzt im Krankenhaus spricht von einer Vergewaltigung. Seine bekundete Anteilnahme klingt gleichermaßen hohl wie diejenige der zuständigen Angestellten der Universität, die meinen, sie wüssten, wie es Agnes ergeht, da sie Frauen seien. Nicht einmal Agnes selbst weiß, wie sie sich fühlen soll. Sie zieht sich zurück, fürchtet, Decker könnte vor ihrer Tür stehen oder ihr plötzlich im Supermarkt begegnen. Am Ende ist sie so allein mit ihrer Erfahrung wie die junge Katze, die sie auf der Straße aufliest.

In jedem Jahr nach dem Übergriff macht Agnes eine Erfahrung, die sie gleichermaßen prägt und diese Momente sind es, die Sorry, Baby auszeichnen. Wenn sie beispielsweise als Geschworene berufen werden könnte und bei der Auswahl vor Gericht eingesteht, dass sie noch nie jemandem gesagt hat, was mit ihr geschehen ist. Oder wenn Agnes erfährt, dass sie nicht die einzige Betroffene ist und daraufhin im Auto eine Panikattacke erleidet. John Carroll Lynchs kurzer Auftritt ist eines der Highlights des Dramas und die Unterhaltung zwischen Agnes und Pete so entblätternd, wie ihre Reaktion, wenn sie nach langer Zeit wieder so etwas wie Vertrauen zu einem anderen Mann in ihrem Leben gefasst hat und sie über die Zukunft sprechen. Eva Victor zeigt Agnes stets distanziert, beinahe mit einem leeren Blick. Doch die Darstellung der Figur, die sie als Studentin war, die sich geschmeichelt fühlte vom Lob ihres Mentors, die sich mit ihrer Kommilitonin Lydie ausgetauscht und gelacht hat, zeigt, dass Agnes nicht immer so war. Ein wenig blüht in ihr diese Unbeschwertheit ganz am Anfang auf, als Lydie sie besuchen kommt. Es gibt kaum ein besseres Sinnbild dafür, was Lydies Abreise mit Agnes anrichtet, als dass ab dem Moment, wenn Lydies Auto das Bild verlässt, die Szene merklich dunkler wird, als wäre die Sonne wieder aus Agnes’ Leben entwichen.

Kommt die Erzählung am Ende beinahe wieder am Anfang an, ist Agnes keine andere Person. Sie wirkt immer noch distanziert und leicht verschroben. Aber während das Leben seit dem Übergriff gefühlt nur für alle anderen weitergegangen ist, während sie in ihrem Zustand verharrt war, besitzt ihr Monolog am Ende eine Zielsetzung in die Zukunft. Der Stil von Eva Victor, auch leichte Momente einzustreuen, wird nur ein gewisses Publikum ansprechen und manche Augenblicke mögen ein wenig grob wirken oder die Szenen selbst zu lang, wenn nicht gar langatmig. Doch verbergen sich hier so viele feine Beobachtungen, kleine Dialoge, wie wenn Agnes sagt, „Es gibt einen Grund, den ich nicht sehen kann, weswegen ich am Leben bin“, die mehr über die Charaktere und was in ihnen vorgeht ausdrücken, als in vielen Worten ausgebreitet wird. Das Independent-Drama ist stark umgesetzt und erscheint in vielerlei Hinsicht derart authentisch, als würde man – zusammen mit den Überschriften der einzelnen Kapitel – ein zum Leben erwecktes Tagebuch beobachten. Sorry, Baby ist ein bemerkenswertes Debüt, das sich dem Thema eines tiefsitzenden Traumas nähert, ohne es tatsächlich packen zu können. Es ist vielleicht die beste Möglichkeit, Betroffenen aus der Seele zu sprechen.


Fazit:
Als Lydie ihre Freundin Agnes zu Beginn besucht, hat sie den Eindruck, als wäre die Zeit stehen geblieben. Agnes scheint immer noch in jenem Moment gefangen, nachdem ihr die Kontrolle über ihren Körper genommen worden war. Was in der Zwischenzeit tatsächlich geschehen ist, beschreibt Filmschaffende Eva Victor anschließend und zeichnet das Bild einer traumatisierten jungen Frau, die der Schatten jenes Ereignisses nie loslassen wird, die aber dennoch nicht dieselbe ist wie damals. Es ist ihr Weg in eine neue Normalität, die doch alles andere ist als das. Sorry, Baby ist kein Drama mit großen Konflikten, die laut ausgetragen werden. Es ist ein leises, bei dem die Schreie der Hauptfigur aus Wut und Verzweiflung ungehört verhallen, selbst wenn man ihr in jeder Minute ansieht, wie ihre Erlebnisse sie geprägt haben. Stark gespielt und mit Feingefühl facettenreich zum Leben erweckt, richtet sich das nicht an ein großes Publikum. Dasjenige, das sich darauf einlässt, wird eine ruhig präsentierte Geschichte finden, die nachwirkt, so wie was Agnes widerfahren ist, sie verändert hat. Beim wiederholten Ansehen wird man hier noch mehr Details erkennen können. Es ist ein gelungenes Regiedebüt, das alle Aufmerksamkeit verdient.
 

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