Die Mittagsfrau [2023]

Wertung: 4.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 16. September 2023
Genre: Drama

Laufzeit: 136 min.
Produktionsland: Deutschland / Schweiz / Luxemburg
Produktionsjahr: 2023
FSK-Freigabe: ab 16 Jahren

Regie: Barbara Albert
Musik: Kyan Bayani
Besetzung: Mala Emde, Max von der Groeben, Thomas Prenn, Liliane Amuat, Laura Louisa Garde, Fabienne Elaine Hollwege, Steve Karier, Elisabeth Wasserscheid


Kurzinhalt:

Im Jahr 1907 geboren, erlebt die jugendliche Helene Würich (Mala Emde) zusammen mit ihrer Schwester Martha (Liliane Amuat), wie sich ihre Mutter über den Verlust ihres im Ersten Weltkrieg gefallenen Mannes immer weiter in ihre eigene Welt zurückzieht. Nachdem Martha volljährig ist, geht sie mit ihrer Schwester zu ihrer Großtante Fanny (Fabienne Elaine Hollwege) nach Berlin. Es ist eine ganz andere Welt, laut und bunt, in der das Leben pulsiert. Doch gerade, als Helene mit dem freidenkenden Karl (Thomas Prenn) zusammen kommt, beginnt der Aufstieg der Nationalsozialisten. Es stellt nicht nur das Leben der jüdischen Familie Würich auf den Kopf, sondern drängt Helene in eine Rolle, die sie nie übernehmen wollte und die zu einer Entscheidung führt, die nicht nur ihr Leben für immer prägen wird …


Kritik:
Barbara Alberts gleichnamige Verfilmung von Julia Francks preisgekröntem Roman Die Mittagsfrau [2007] erscheint ähnlich distanziert und unnahbar wie die Figur im Zentrum, die hier porträtiert wird. Das liegt weniger am Inhalt, als an den zeitlichen Sprüngen, die die Erzählung vollzieht. Dabei hätte es sich angeboten, eine Frau vorzustellen, die eine unfassbare Entscheidung trifft, ehe sie beleuchtet und ihre Handlung erläutert wird. So erscheint das Porträt zäher, als es sein müsste, dabei aber nicht weniger eindringlich.

Was alledem vorrangig fehlt und diesen Eindruck festigt, ist Kontext bzw. die Abwesenheit desselben. Die Geschichte beginnt, was man sich mühsam erschließen muss, nach Ende des Ersten Weltkriegs. Die Familie von Helene, die von ihrer Schwester Martha nur „Engelchen“ genannt wird, ist so gut wie zerbrochen. Der Vater ist gefallen, die Mutter spätestens über den Verlust verrückt geworden. Zu Helene hat sie wohl nicht erst seither gar kein Verhältnis, „ein blindes Herz“, wie es in der Familie heißt. Für Martha ist die Beziehung zu ihrer Freundin Leontine der größte Halt, doch sie heiratet nach Berlin und verlässt Vorpommern. Jahre später, nachdem Martha volljährig ist und Helene beinahe, gehen sie ebenfalls dorthin, zur Cousine ihrer Mutter. Martha wird mit Leontine wiedervereint und Helene arbeitet in einer Apotheke, um das Abitur zu finanzieren, mit dessen Hilfe sie später Medizin studieren will. Doch der Aufstieg der Nationalsozialisten hat bereits begonnen und damit die Einschränkungen im Alltag all derjenigen, die frei leben und denken wollen. In dem Literaturstudenten Karl findet Helene die Liebe ihres Lebens, doch das Glück währt nicht lange. Es ist der Beginn einer nicht enden wollenden Prüfung, an der Helene beinahe zerbricht.

Einige dieser Wegstationen muss man jedoch vorwegnehmen, um zu verstehen, welche Figur hier im Zentrum steht und weshalb es eingangs so schwerfällt, ihr zu folgen. Denn es hat den Anschein, als hätte auch Helene ein „blindes Herz“, um das filmische Sinnbild erneut zu bedienen. Schon in der Beziehung zu Karl, der mit ihr ein Kind bekommen möchte, sie aber nicht, erscheint sie distanziert. Diese emotionale Kälte tritt später noch mehr zum Vorschein, als sie unter den widrigsten Umständen schwanger wird und ein Kind großziehen muss in einem Land, das wieder in einem Krieg versinkt und in dem sie ihre jüdischen Wurzeln verleugnen soll. Das Muttersein ist für sie eine Qual, ebenso wie die Ehe mit dem Soldaten Wilhelm, der sich in Helene verliebt hat, ohne um ihre Herkunft zu wissen. Wie sehr die Gesinnung des Naziregimes von ihm Besitz ergreift, worüber er und Helen sprechen, thematisiert Die Mittagsfrau nicht. Es ist ein Versäumnis, Helenes Leben mehr Kontext zu verleihen, die Welt um sie herum, die sich vom lustvollen Freigeist Berlins bei ihrer Ankunft dort in eine menschenverachtende Kloake des Bösen verwandelt, nicht zu beleuchten. Wenn sie als Krankenschwester Sterilisationen an kerngesunden Frauen durchführen soll, sie ohne „Ariernachweis“ nicht mehr arbeiten darf, blendet Regisseurin Albert die abscheuliche Realität nicht aus, aber sie belässt sie als schemenhaften Hintergrund.

Erschwerend kommt hinzu, dass Helene selbst lange Zeit kaum zugänglich ist. Ihr Blick scheint so neugierig wie traurig, doch was in ihr vorgeht, behält sie zumeist für sich. Selbst, als die Welt um sie herum in der Dunkelheit versinkt, scheint sie unbeteiligt und distanziert, was es nur schwerer macht, in Bezug auf die Rückblicke in ihre Kindheit zu Beginn, die immer wieder und inhaltlich nur wenig verzahnt erscheinen, eine Entwicklung in ihr als Figur zu erkennen. Die verschiedenen Zeitebenen versucht Die Mittagsfrau, mit unterschiedlichen Kamerafiltern zum Leben zu erwecken, so dass die ersten Minuten mit starkem Rauschen und chromatischer Aberration eingefangen sind. Doch diese Filter finden sich mitunter in den verschiedenen Epochen wieder, so dass nur schwer ein einzigartiger Wiederkennungswert gegeben scheint. Anders hingegen die Auswahl des unterschiedlichen Bildformats. Fühlt sich Helene in ihrer Rolle als Mutter eingeengt, so dass ihr die Luft zum Atmen fehlt, fängt die Filmemacherin das Bild in einem engeren Format ein. Das ist einfallsreich, lenkt jedoch – zumindest dasjenige Publikum, das darauf achtet – mitunter vom eigentlichen Geschehen ab.

So ergibt Die Mittagsfrau insgesamt ein uneinheitliches Bild. Die Besetzung ist merklich engagiert und Hauptdarstellerin Mala Emde transportiert die brodelnde Unruhe ihrer zurückhaltenden Figur gekonnt. Doch begleitet man sie so lange Zeit, ohne auch nur den Hauch eines Eindrucks ihrer Persönlichkeit, oder worauf all dies hinsteuern wird, dass es mitunter schwerfällt, sich darauf einzulassen. Die Beobachtungen zur Rolle der Frau in jener Zeit und der jüdischen Bevölkerung im Allgemeinen sind so treffend wie erschreckend, gleichzeitig aber auch bekannt. Lässt man sich darauf ein, erwartet das Publikum ein Porträt einer Frau, die auf Grund ihrer Lebensumstände zu einer unvorstellbaren Entscheidung gelangt. Das ist nicht einfach, aber inhaltlich wichtig und für das richtige Publikum sehenswert umgesetzt.


Fazit:
Kurz nach der Jahrhundertwende geboren, erlebte diese junge Generation nicht nur zwei Kriege, sondern auch den Abstieg der Gesellschaft an einen unfassbar dunklen Ort. So unbeschwert Barbara Alberts Erzählung beginnt, zu sehen, wie die Schicksalsschläge Helene zusetzen, ihre Schwester Martha immer mehr den Drogen verfällt vor dem Hintergrund einer aufblühenden Kultur und eines Freigeistes, ehe all dies unter der Herrschaft der Nazis erstickt wird, ist so beunruhigend wie dystopisch mit anzusehen. Doch all das verbleibt im Hintergrund in Anbetracht dessen, was Helene selbst widerfährt und sie letztlich zu einer Entscheidung bringt, die so spät in der Geschichte erst gezeigt und erläutert wird, dass sie nicht das emotionale Gewicht entfaltet, das möglich gewesen wäre, wäre es der Startpunkt des Porträts gewesen. Die Mittagsfrau ist stark gespielt, sehenswert ausgestattet, bis hin zu den treffenden Kostümen. Auch die Bilder sind wohl ausgesucht, selbst wenn die Verwendung der Filter nicht immer nachvollziehbar ist. Doch nicht nur Helenes Unnahbarkeit machen es schwer, einen Zugang zur Geschichte zu finden, die immerhin mehr als 30 Jahre komprimiert erzählt. Trotz sehenswerter Darbietungen eignet sich das daher kaum für ein großes Publikum, auch, weil die Erzählung erst spät eine emotionale Zugkraft entwickelt. Das heißt aber nicht, dass es hier nicht viel zu entdecken gäbe. Ganz im Gegenteil.